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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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verließ? Wann hatte er sie gegen den grauen Kapuzenpullover und die schwarze Hose eingetauscht? Weshalb? Und woher hatte er die anderen Kleider bekommen?
    Lotta nahm den Kaugummi aus ihrem Mund, ein kleines blassrosa Kissen, und klebte ihn über das Schild an Davids Garderobenhaken, auf dem »David« stand.
    »Warum …?«, begann ich.
    »Er ist doch nicht da«, sagte sie.
    »Wenn er wiederkommt, machen wir es wieder ab?«, fragte ich.
    Lotta nickte.
    Und ich wollte sagen: »Unsinn«, ich wollte den Kaugummi abkratzen, jetzt sofort, weil es war, als hätte sie Davids Namen darunter begraben. Aber ich ahnte, dass ich ihre Entscheidung akzeptieren musste.
    »Meine Schule sieht anders aus«, sagte Lotta. Und dann: »Fahren wir jetzt zu ihm?«
    »Ja«, sagte ich, »wir fahren zu ihm.«

    Ich versuchte die ganze Fahrt über, Lotta Dinge zu fragen. Über die Werkstatt zur Verbesserung der Allgemeinen Gerechtigkeit. Über die Mappe. Darüber, weshalb sie nachts in einer Weide Kopfstand machte. Über Rosekast und seine dreckigen Fenster und seine Bücher. Ich fragte und fragte, und Lotta antwortete nicht. Sie sah aus dem Fenster und schwieg. Ich hatte sie auf dem Beifahrersitz sitzen lassen, weil David dort immer sitzen wollte, und auch, damit ich sie besser im Blick hatte, wenn ich sie Dinge fragte.
    Nun hatte ich sie und ihr Schweigen im Blick. Es war kein verbissenes oder trotziges Schweigen, es war ein irgendwie passives Schweigen, so dass ich mich zwischendurch fragte, ob ich vielleicht gar nicht mit ihr sprach, sondern mir nur einbildete, mit ihr zu sprechen.
    Auf dem Parkplatz der Klinik riss mir der Geduldsfaden.
    Ich würgte den Motor ab und sprang aus dem Wagen. »Lotta!«, rief ich. »Ich kann mich ziemlich gut hören! Ich bin mir fast sicher, dass du mich auch hörst! Bist du stumm geworden? Sag was! Rede mit mir!«
    Das hatte Claas auch gesagt. Zu mir. Es hatte, erinnerte ich mich, nicht geholfen.
    »Schreien Sie ihr Kind doch nicht so an«, sagte ein älterer Herr mit einem Rollator und einem Dackel.
    »Das ist nicht mein Kind«, murmelte ich. »Mein Kind liegt im Koma.«
    Und ich öffnete Lotta die Beifahrertür schweigend. Sie musterte mich mit großen blauen Augen. Da nahm ich sie in die Arme, ganz plötzlich. Sie war klein für ihr Alter und fühlte sich sehr zerbrechlich an. »Tut mir leid«, murmelte ich in ihr blondes, ungekämmtes Haar. »Ich wollte nicht schreien. Es ist nicht leicht, es ist einfach alles etwas viel, und …«
    Sie machte sich von mir los, ganz vorsichtig, und lächelte zu mir hoch. Es war ein Ist-schon-okay-Lächeln. Dann gingen wir zusammen durch die Glastüren der Klinik.
    Aber dahinter blieb Lotta stehen und griff nach meiner Hand.
    »Ich hab Angst«, sagte sie ganz leise.
    »Ich auch«, flüsterte ich. »Jedes Mal, wenn ich hier bin. Nein, eigentlich auch, wenn ich nicht hier bin. Die ganze Zeit.«
    »Vielleicht haben alle Leute Angst«, sagte Lotta und sah sich um, wo alle Leute an uns vorbei durch das Foyer gingen. »Die ganze Zeit.«
    »Wovor?«, fragte ich und sah auch alle Leute an. Die meisten von ihnen wirkten nicht, als hätten sie Angst, aber womöglich überspielten sie es nur gut.
    »Vor allem«, sagte Lotta. »Komm. Wir müssen trotzdem weitergehen.«
    Wir gingen trotzdem weiter.
    Wir gingen die Treppen hinauf und die kahlen Gänge entlang bis zur Intensivstation. Bis zu Davids Bett.
    Mein Herz klopfte wie immer, wenn ich neben dieses Bett trat.
    Und ich hoffte. Ich hoffte mit aller Macht, das Bett wäre leer – »wir haben ihn verlegt«, würde die Schwester mit den kurzen grauen Haaren sagen, »auf die normale Kinderstation; er ist aufgewacht und hat sich gelangweilt.«
    Er lag da wie immer, auf dem Rücken, lautlos atmend. Ich schluckte.
    Die grüne Linie des EKGs lief gleichmäßig über den Bildschirm. Stabil. Standhaft. Starrsinnig. Ein Pfleger stand neben den Geräten und notierte etwas. Er nickte uns zu und notierte weiter, und ich beschloss, ihn auszublenden, so wie ich sie alle immer ausblendete, wenn sie da waren. Ich hätte auch Lotta gerne ausgeblendet.
    Aber Lotta war unausblendbar.
    Sie ging zu dem Bett, beugte sich darüber und sah in Davids blasses Gesicht wie in einen See. Oder in einen Spiegel.
    »Viele Grüße«, sagte sie. »Du weißt schon, von wem alles.«
    Ich hoffte, sie würde mehr sagen, doch sie beugte sich noch weiter hinunter, so weit, dass sie Davids Wange beinahe mit ihrer Nase berührte – einer schnoddrigen, ungeputzten

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