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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Nase –, und flüsterte ihm etwas zu. Ich verstand nur den letzten Satz. »Vielleicht klappt es ja noch«, flüsterte Lotta.
    Danach trat sie zurück und nickte ein paar Mal, und dabei blinzelte sie, als müsste sie gleich heulen, und ich dachte, bloß nicht, sonst heule ich auch. Aber Lotta heulte nicht. Sie wischte sich nur mit dem Ärmel übers Gesicht und zog die Nase hoch. Am liebsten hätte ich sie gepackt und geschüttelt und wieder angeschrien: Was klappt vielleicht? Von wem sollst du Grüße ausrichten? Was weißt du, das ich nicht weiß?
    Aber ich wusste, dass sie mir nichts erklären würde. Es war nicht Lottas Aufgabe, mir etwas zu erklären. Es war, und das begriff ich in diesem Moment, allein meine Aufgabe, herauszufinden, was geschehen war.

    Im Flur trafen wir Thorsten Samstag.
    Er lächelte, als er mich sah. Er sah jünger aus, wenn er lächelte, und man merkte, dass er es nicht oft tat. Vermutlich hatte man wenig Grund zum Lächeln, wenn man hier arbeitete. Die Kabel und Schläuche, die ich durch die offenen Türen sah, wirkten wie die schrecklichen Innereien einer riesigen Todesmaschine. Sieh nicht hin, wollte ich zu Lotta sagen, sieh nicht durch diese Türen, aber ich dachte, wenn ich das sage, sieht sie erst recht hin.
    »Ich wusste nicht«, sagte Samstag, »dass Sie eine Tochter haben.«
    »Das wusste ich auch nicht«, sagte Lotta.
    Samstag zog eine Augenbraue hoch.
    »Sie ist nicht meine Tochter«, sagte ich und verspürte das Bedürfnis, Lottas Nase zu putzen, falls die anderen Leute auch dachten, sie wäre meine Tochter. »Sie gehört zu David.«
    Ich lauschte diesen Worten eine Weile nach, sie gehört zu David, seltsam, warum hatte ich das so gesagt? Es klang richtig. Und dennoch versetzte es mir einen Stich. Sie gehörte zu David, und ich tat es nicht. War es so?
    Samstag nickte und ging vor Lotta in die Hocke, um auf Augenhöhe mit ihr zu sein.
    »Dein Freund muss zurzeit viel schlafen«, sagte er. »Das hast du ja gesehen.«
    Lotta nickte.
    »Stirbt er?«, fragte sie.
    Samstag überlegte einen Moment. »Ja«, antwortete er. »Alle Menschen sterben irgendwann. Aber wann, das weiß man nicht. Vielleicht wird er noch hundert Jahre alt.«
    »Wenn er das wird, werde ich das auch«, sagte Lotta. »Weil, wenn sie uns begraben, wäre zusammen ja praktischer. Ich möchte in der Weidenkirche begraben werden. Die wir gemacht haben. Ich glaube, das hätte er auch gewollt.«
    »In der Weidenkirche«, wiederholte Samstag. »Ich versuche, daran zu denken.«
    »Nee«, sagte Lotta. »Wenn David und ich hundert sind, dann sind Sie schon hundertundnochwas und sicher tot. Wir denken selber dran.«
    »Gut«, sagte Samstag und zeigte zu mir hoch. »Solange du aber noch nicht hundert bist, versprich mir, auf sie aufzupassen.«
    »Auf Lovis?«
    Ich zuckte zusammen, als Lotta meinen Vornamen sagte, es klang so vertraut. Als hätten wir nicht erst vor ein paar Tagen zum ersten Mal miteinander gesprochen.
    »Ja, auf Lovis«, sagte Samstag. »David, auf den passen wir hier auf, aber auf Lovis muss auch jemand aufpassen.«
    »Ich passe schon auf mich selber auf«, sagte ich. Die Mauer, dachte ich, die unsichtbare Mauer ist nicht nur zwischen mir und Claas, sie ist auch zwischen mir und den anderen Menschen, ich kann also sowieso nur auf mich selber aufpassen.
    Samstag richtete sich auf und sah mir einen Moment ins Gesicht. Doch es war, als blickte das Blaue an mir vorbei in die Ferne. »Das bezweifle ich«, sagte er. »Schlafen Sie manchmal?«
    »Ich … ja, ich sehe wahrscheinlich ein bisschen müde aus. Das ist, weil … ich habe die ganze Nacht gelesen. An der Schreibmaschine. Umgekehrt.«
    »Und? Haben Sie etwas herausgefunden?«
    »Das … erzähle ich Ihnen ein andermal«, sagte ich mit einem Blick zu Lotta. »Komm, Lotta.«
    »Lotta«, sagte Samstag. »Lotta und Lovis.«
    Es hörte sich schön an, wie er das sagte. Aber ich wollte es nicht hören.

    Als wir im Auto saßen, wünschte ich Lotta wieder fort, ich wollte zurücklaufen zu David und mich zu ihm setzen und einfach allein mit ihm sein, ich wollte, vielleicht, auch mit Samstag sprechen. Aber Lotta ließ sich nicht fortwünschen. Sie kramte einen neuen Kaugummi aus ihrer Tasche, wickelte ihn aus – dieser war lindgrün – und schob ihn in den Mund. Dann sank sie zurück in ihren Sitz und ihr Schweigen.
    Ich wollte nicht verantwortlich für Lotta sein, und ich wollte, dass sie von meiner unsichtbaren Mauer wegging. Lotta hatte keinen Versuch

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