Paradies für alle: Roman (German Edition)
Er roch nach altem Kaffee und Desinfektionsmittel. »Glaubst du, das Ganze nimmt mich nicht mit?«
»Ach …«, sagte ich vage.
»Rede doch mit mir!« Er schüttelte mich leicht an den Schultern. »Warum reden wir nie? Über … das hier? Über alles? Über David? Rede mit mir!«
Er war so groß und stark, ich wusste von Fotos, wie klein und schmal ich neben ihm aussah, und wäre dies ein Film gewesen, hätte ich mich einfach in Claas’ große, starke Arme fallen lassen, mich aufgegeben und geheult. Und im Hintergrund hätten Geigen gespielt.
»Was soll ich denn sagen?«, fragte ich, den Blick an ihm vorbeigerichtet, auf Davids Bücherregal, wo neben dem DTV-Jugendlexikon ein aus Streichhölzern zusammengebautes Miniaturflugzeug stand, die Flügel bespannt mit weißen Taschentüchern. Auch so ein Projekt.
»Was … was du sagen sollst? Das weiß ich doch nicht … Mir geht es scheiße, zum Beispiel … und: Lass uns das zusammen durchstehen … und …«
»Und Geigenmusik«, sagte ich und löste mich aus seiner Umarmung. »Gehen wir runter in die Küche. Ich brauche einen Kaffee.«
Er folgte mir die Treppe hinunter, mit hängenden Schultern, wie ein großer, müder, ratloser Bär. Er hatte nichts über die Schreibmaschine und die Mappe gesagt. Er hatte sie vermutlich nicht einmal bemerkt. Aus irgendeinem irrationalen Grund rechnete ich ihm das als weiteren Minuspunkt an.
Und mitten auf der Treppe dachte ich, dass ich die Geigenmusik wollte.
Dass ich mich nach der Geigenmusik sehnte. Nach der Umarmung. Nach der Nähe. Ich sehnte mich danach, dass irgendetwas zerbrach und wir von vorne anfangen konnten. Du bist viel stärker als ich, wollte ich sagen, schlag doch diese Mauer kaputt, die uns trennt! Tu doch etwas! Aber ich wusste nicht, was.
Und dann saßen wir am Küchentisch und tranken Kaffee aus den leicht misslungenen Tontassen, die wir vor sehr langer Zeit zusammen auf einem Töpfermarkt gekauft hatten. Es war Frühling gewesen wie jetzt, und David hatte noch nicht existiert. Die Tontassen hatten eine merkwürdige grüne Glasur voller Risse, die vielleicht beabsichtigt waren, wahrscheinlich aber nicht.
Vor der Verandatür zeichnete die Sonne Taujuwelen ins Gras. Lovis könnte das malen, hörte ich Davids Stimme in meinem Kopf sagen. Ja, antwortete ich ihm lautlos. Ja. Ich werde all das für dich malen, wenn du wieder aufwachst. All diese kleinen verrückten Dinge, die du bemerkst. Es wird ganz anders sein zwischen uns …
»Ich habe«, sagte Claas, »mit Peter gesprochen. Und mit seinen Eltern. Du weißt, Peter, aus Davids Klasse.«
Ich nickte.
»Ich war bei ihnen, gestern. Ich habe früh Schluss gemacht, und bevor ich nach Rostock gefahren bin, war ich bei ihnen«
»Ohne mich.«
»Ich habe dich angerufen, das habe ich schon gesagt. Peters Eltern … wie heißen die? Sie meinten, du hättest mit ihnen telefoniert. An dem Tag, an dem David verschwunden ist. Ehe er auf der Autobahn … aufgetaucht ist.«
»Ja. Ich habe mit allen telefoniert. Peter wusste aber nichts. Hat er jedenfalls gesagt. Er hat nicht gesehen, ob David auf den Schulbus gewartet hat, weil er noch mal drinnen war, um etwas zu holen. Als er rauskam, hat er gesagt, war David schon weg. Aber er war nicht im Bus, der Busfahrer war sich sicher.«
Claas sah in seine Kaffeetasse. »Peters Mutter ist noch etwas eingefallen«, sagte er. »Sie hat Peter abgeholt an dem Tag, und sie meinte, sie hätte David an der Straße gesehen, die von der Schule wegführt. Er ging die Straße entlang, alleine. Sie hätte sich nichts dabei gedacht. Erst als ich mit ihr sprach, fiel es ihr ein. Dass er doch im Bus hätte sitzen müssen oder auf den Bus warten, nicht alleine die Straße entlanggehen. Aber etwas hat sie schon an dem Tag gewundert. David trug keine Schultasche.«
»Rucksack«, sagte ich automatisch. »Er hatte einen Rucksack für die Schule, blau, mit Reflektoren seitlich.«
Claas nickte, obwohl ich fast sicher war, dass er nicht wusste, in was David sein Schulzeug mitnahm. »Der Rucksack hängt immer noch an der Garderobe«, sagte er. »Neben Davids Sportzeug. Hat Peter gesagt. David hat den Rucksack nicht mitgenommen.«
»Wohin?«
»Das ist die große Frage. Er hatte etwas vor. Etwas, bei dem ihm der Rucksack und das Sportzeug im Weg gewesen wären.«
Ich sah Claas eine Weile an. Er selbst sah hinaus in den Morgen. Unter seinen Augen zeichneten sich die gleichen Ringe ab wie unter meinen, wenn ich in den Spiegel sah.
»Du
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