Paradies für alle: Roman (German Edition)
etwas fragen. Wegen David.«
»Ach ja.« Sie schnippte die Asche von ihrer Zigarette. »Schlimme Geschichte. Auf die Autobahn war das, ja? René!«, brüllte sie über die Schulter. »Besuch für dich!«
Und, leiser, sagte sie zu mir: »Er geht nich mehr viel raus die letzte Zeit, liegt nur auf Bett und raucht und guckt an die Decke. Das mit den David, das hat ihn ziemlich mitgenommen …«
Die Haustür ging auf, und René trat ins Freie, blinzelnd wie ein Maulwurf im Sonnenlicht.
Der fleckige Blaumann, den er stets trug, war zerknitterter als sonst, als hätte er darin geschlafen, und sein weißblondes Haar stand in alle möglichen Richtungen ab. Die zögernde Art, auf die er an den Zaun kam, gab mir das Gefühl einer Zoobesucherin, die versucht, ein seltenes Tier zu locken. Am Zaun des Zoos stand ein altes, braunes Auto mit einer ausgewechselten blauen Tür, und ich sah einen Moment das Auto an, um nicht René anzustarren.
»Hallo René«, sagte ich. »Das ist ein … hübsches Auto …«
René nickte nur. Sein Gesicht war von nahem sehr jung. Höchstens fünfundzwanzig. Ich hatte ihn immer auf Anfang vierzig geschätzt. Die Mutter – wenn sie es war – sah aus wie Anfang sechzig. Vermutlich täuschte ich mich auch da. Das authentische Leben in Straßen wie diesen ließ die Leute altern, ehe sie überhaupt die Chance hatten, jung zu sein.
»Ich bin die Mutter von David«, sagte ich zu René.
Er nickte wieder. Er roch nicht nur nach Zigaretten, sondern auch nach Schnaps.
»Ich versuche, sein Tagebuch zu lesen«, erklärte ich. »Um herauszufinden, was passiert ist.« Tagebuch, dachte ich, würde René eher verstehen als Werkstattbericht oder Projektmappe … Ich wollte nicht herablassend klingen, als spräche ich zu einem Kind, und gleichzeitig wollte ich verstanden werden. Wie hatte David mit René gesprochen?
»Wissen Sie, was passiert ist?«, fragte ich.
René schüttelte den Kopf und sah sich hilfesuchend um.
»Hast du was mit der Sache zu tun?«, fragte seine Mutter und zeigte mit ihrer Zigarette auf ihn.
»Neinein«, sagte ich schnell. »Das glaube ich nicht. Ich wollte nur wissen …«
René machte einen Schritt rückwärts.
»Warten Sie!«, rief ich. »David … er hat in irgendeiner Geheimschrift geschrieben, auf der Schreibmaschine … Lotta meinte, ich sollte Sie fragen … Sagt Ihnen das was? Geheimschrift? Schreibmaschine?«
René hob die Hände in einer abwehrenden Geste, mit gespreizten Fingern. Seine Ring- und Mittelfinger waren auf merkwürdige Weise krumm, obwohl die übrigen Finger gerade waren. Quer über den Mittelfinger der linken Hand zog sich ein breiter Wulst. Eine Narbe.
»Was haben Sie mit Ihren Fingern angestellt?«, fragte ich, alle Gedanken an Höflichkeit über Bord werfend.
»Streit«, sagte René. »Fahrrad.«
Dann drehte er sich um und lief weg.
»Bleibst du wohl hier!«, schrie seine Mutter. »Die Frau hat dir was gefragt!«
»Lassen Sie ihn«, sagte ich. »Bitte.«
Sie zuckte die Schultern und trat ihre Zigarette aus. »Dieser Junge!«, sagte sie. »Das Auto, das hat er auch kaputtgekriegt, wollt mir nich sagen, wie. Trotzdem, man liebt sie ja doch, die Kinder, was. Hat zu wenig Sauerstoff gekriegt bei die Geburt, und immer kommt er in irgendein Streit, das Fahrrad war nur eins davon. Armer Junge. Der kann Sie nich weiterhelfen.«
»Ich glaube«, sagte ich langsam, »das hat er schon.«
Ich ertappte mich dabei, wie ich aufatmete, als ich die Haustür hinter mir schloss.
»Welten«, flüsterte ich. »Welten.«
David hatten sie gekannt, drüben in der anderen Welt der grauen Häuser. Mich nicht.
David, dachte ich voller Bewunderung und auch voller Bitterkeit, war in allen Welten zu Hause, und ich in keiner.
Ich stellte die alte Schreibmaschine wieder richtigherum hin und setzte mich davor. Dann schlug ich die Projektmappe beim vierten Eintrag auf und legte meine Finger auf die alten, runden Tasten. Ich knickte die Ring- und Mittelfinger ein, damit ich sie nicht benutzen konnte. Wie René. Und ich las den Text so, als hätte ihn jemand geschrieben, der diese Finger ebenfalls nicht benutzte. Eine Menge Buchstaben fehlten, daher die Leerzeichen im Text. Bei den fehlenden Buchstaben waren das e, das d und das w, das o, das i, das l und das k. Überall, wo der Text keinen Sinn ergab, musste ich einen dieser Buchstaben ersetzen, da ich aber nicht wusste, welchen, musste ich sie alle durchprobieren. Ich würde eine Menge Schmierpapier verbrauchen,
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