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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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sprang ich über die Leitplanke und blieb auf dem Seitenstreifen stehen. Genau in dem Moment, in dem ich stehen blieb, spürte ich eine Hand auf meinem Arm, die mich sehr fest hielt.
    Neben mir stand Lotta. Ihre blauen Augen sahen mich an, groß und besorgt. Und da begriff ich. »Nein«, sagte ich und lachte beinahe, »nein, nein. Ich wollte nicht weiterrennen, auf die Autobahn hinaus. Keine Angst. Ich bin vernünftig. Ich tue nichts Unüberlegtes.«
    Lotta nickte stumm und ließ mich los, ein wenig zögernd. Dann stiegen wir beide zurück ins Auto.
    »Danke«, sagte ich. »Danke, dass du auf mich aufpasst.«
    Aber Lotta war schon wieder in ihrem Sitz versunken und sah aus dem Fenster.

    Als ich das Auto zu Hause in der Einfahrt parkte, war Claas’ Wagen nicht da. Er war also doch in die Klinik gefahren. Natürlich war er; ich hatte gesagt, er müsste nicht zu Hause bleiben.
    »Ich bin jetzt bei Eintrag vier«, sagte ich zu Lotta. »Im Werkstattbericht. Wie muss ich weiterlesen? Du weißt es doch.«
    Ich erwartete keine Antwort. Aber diesmal antwortete Lotta.
    »Frag René«, sagte sie. Und lief davon.

    Nie hätte ich gedacht, dass ich je auf René warten würde. Aber ich wartete. Ich stand am Fenster und wartete, dass er wieder hinten am Zaun bei den Weiden auftauchte.
    Er tauchte nicht auf, vier Tage lang.
    Auch nicht auf der Straße.
    Ich fuhr weiter zwischen Rostock und zu Hause hin und her, ohne dass sich an Davids Zustand etwas änderte.
    Claas und ich aßen an drei der vier Abende zusammen. Wir gaben uns Mühe. Ich kochte, und Claas kam nicht erst um Mitternacht aus der Klinik. Wir sprachen über Belangloses. Wir versuchten nicht, einander in die Arme zu nehmen. Meine unsichtbare Mauer war so hoch wie immer, und ich lächelte höflich darüber hinweg.
    Einmal fuhren wir zusammen zu David, und weil wir an seinem Bett nicht über Belangloses sprechen konnten, sprachen wir gar nicht.
    Es war leichter, David allein zu besuchen. Es war leichter, mit Thorsten Samstag über ihn zu sprechen, Thorsten, der mit nichts persönlich etwas zu tun hatte. Ich merkte, dass ich mich nach seinem geduldigen braun-blauen Blick sehnte. Der Hund, mit dem er diesen Blick teilte, schlief immer nachts unter der Verandabank. Ich hatte begonnen, ihm Küchenabfälle zu geben. Es war nicht gut, einen Hund anzufüttern, den man nicht behalten wollte. Wenn es stimmte, was Lotta David erzählt hatte, konnte ich den Hund schlecht zu Tielow zurückbringen.
    Stimmte es? Stimmte, was David da aufgeschrieben hatte? Oder hatte er sich alles, was ich las, nur ausgedacht?
    Und wie war der Hund in unseren Garten gekommen?
    Claas bemerkte den Hund nicht. Er war ja fast nie da. Er hätte es, dachte ich, wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, wenn uns ein Elefant zugelaufen wäre.
    Am fünften Tag beschloss ich, René zu besuchen. Ich hatte nie darüber nachgedacht, wo René wohnte, aber irgendwo musste er wohnen, und irgendjemand würde wissen, wo.
    Auf der alten Pflasterstraße, an deren Ende unser Haus steht, lag der Sonnenschein in kleinen Frühlingspfützen. Die Knospen der beiden Kastanien, die den Eingang flankieren wie grünfingerige Wächter, standen kurz vor dem Platzen; bald würden sie blühen, die weißen und tiefrosafarbenen Kerzen. Ich dachte daran, wie David uns als Dreijähriger gefragt hatte, ob man sie anzünden müsste, weil sie doch Kerzen hießen. Claas hatte geantwortet, man müsste Seifenblasen machen und bei jedem Pusten ein Zauberwort sagen. Dann würden sich alle Blütenkerzen, die von einer Seifenblase berührt wurden, in den nächsten Tagen von selbst entzünden.
    Das hatte dazu geführt, dass David und er stundenlang zusammen auf der Treppe vor dem Haus saßen und die Seifenblasen in die Äste hinaufpusteten. Claas war häufiger zu Hause gewesen damals. Ich hatte den beiden Kuchen hinausgebracht, zur Stärkung. Damals konnte ich noch durch mein Mauerloch kriechen. Es war sehr lange her.
    Bei einem seiner letzten Wutanfälle, vor nicht einmal zwei Wochen, hatte David draußen Steine nach den Knospen der Kastanien geschleudert. Wir waren zusammen nach Berlin gefahren, ich glaube, es war am Tag danach gewesen. Ich hatte ihn draußen herumschreien hören und war aus meinem Atelier gekommen, graue Ölfarbe an den Händen, und da hatte er auf der Treppe gestanden, aufgelöst, das rotgoldene Haar in verschwitzten, wilden Strähnen auf dem Kopf.
    »Das hättest du wohl gerne, wie?«, hatte er geschrien, ich weiß es noch, weil ich

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