Paradies für alle: Roman (German Edition)
mich fragte, mit wem er sprach. Nicht mit mir, er hatte gar nicht bemerkt, dass ich in der offenen Haustür stand. »Das hättest du wohl gerne, dass die Kastanien blühen und schön sind! Und dass wir dann glauben, alles wäre in Ordnung? In Wirklichkeit machst du alles kaputt! Obwohl du gar nicht da bist, nirgends!«
»David«, hatte ich gesagt, aber er hatte mich nicht gehört, und ich hatte ihn am Handgelenk festgehalten. »David! Hör auf damit! Du zerstörst die Blüten!«
Erst da hatte er mich bemerkt. Ich sah seine blitzenden grünen Augen noch vor mir, wutentbrannt. »Jawohl!«, hatte er mir ins Gesicht geschrien. »Das mache ich! Alles kaputt! Kaputtmachen kann ich auch, alles Leben ist Leiden, er hatte schon recht, der Prinz, und jetzt lass mich los! Ich will nicht, dass die Kastanien blühen!«
Der Prinz. Siddharta. Warum erinnerte ich mich erst jetzt daran?
Davids Fingerspitzen waren blutig gewesen, weil er die Steine aus der Erde gekratzt hatte, um sie zu werfen, und das hatte mich erschreckt.
»Ich will aber nicht, dass du unsere Kastanienblüten zerstörst!«, hatte ich geschrien. »Und ich will nicht, dass du dir weh tust!«
»Das ist mir egal!«, hatte David geschrien. »Du verstehst ja sowieso nichts! Nichts!«
Er hatte sich aus meinem Griff befreit und war davongelaufen, um das Haus herum in den Garten.
Und ich war ihm nicht nachgegangen.
Als ich in meiner Erinnerung so weit gekommen war, merkte ich, dass meine Füße mich in Lottas Straße getragen hatten. Es waren nur fünf Minuten zu Fuß, und dennoch lag eine Welt zwischen diesem Sandweg und unserer kastanienbeschatteten Treppe.
Claas hatte auf einem Spaziergang vor langer Zeit gesagt, hier wäre das Leben noch »authentisch«, und damit authentisch Vor-Wende gemeint. Es hatte nach Nostalgie und Klischeewaldgurken geklungen, aber an diesem Tag sah ich nur, wie verfallen die Zäune waren und wie grau die ungestrichenen, roh verputzten Häuser. Aus einem von ihnen drangen die lauten Bässe unkenntlicher Musik. Ein paar Jugendliche fuhren auf nur noch halb vorhandenen BMX-Rädern vor mir den Weg entlang.
Die Bässe wurden lauter. Eine Tür knallte. Jemand brüllte »Musik leiser!«, und jemand anderer brüllte, das ginge den anderen einen Scheiß an, wie laut die Musik wäre, und jemand Drittes, eine Frau, brüllte im gleichen Ton, das Mittagessen sei fertig.
Zwei Mädchen von vielleicht fünf und zehn Jahren rannten über die kahle Auffahrt, blieben stehen, starrten mich an und rannten dann weiter zur Hintertür des Hauses.
»Hey!«, rief ich, ziemlich laut, um die Bässe zu übertönen. »Seid ihr Lottas Schwestern?«
Die Mädchen nickten und starrten mich von der Tür aus weiter an.
»Wisst ihr, wo René wohnt? Wohnt der auch irgendwo hier in der Straße?«
Die Mädchen starrten. Schließlich zeigte eines auf ein anderes graues Haus.
»Da drüben? Da wohnt er?«
Nicken. Starren. »Danke«, sagte ich. »Grüßt Lotta von mir. Ich bin Davids Mutter.«
Die beiden sahen sich an.
»Geht’s David denn so?«, fragte die Ältere.
»Lotta hat gesagt, er liegt in Krankenhaus«, sagte die Jüngere. »Sie geht ja immer nach David, weil das ihr Freund is. Lassen die ihn bald raus aus den Krankenhaus?«
Der Name meines Sohnes schien die Zungen der Mädchen gelöst zu haben.
»Ja«, sagte ich. »Er ist bald wieder zu Hause.«
»Dann gehen Sie jetzt nach René?«, fragte die Jüngere. »Was wolln Sie denn von ihn?«
Aber die Ältere zog sie ins Haus und schloss die Tür vor dieser Frage.
»Was wolln Sie denn von ihn?«, fragte mich ein paar Minuten später auch die Frau, die ich im Garten des Hauses fand, das die Mädchen mir gezeigt hatten. Sie hatte Wäsche auf eine Wäscheleine mit einbetonierten Pfosten gehängt, doch nun war sie zum Zaun gekommen und hatte sich eine Zigarette angesteckt, die sie rauchte, während sie mich musterte. Ich trug eine Jeans aus Ökofasern, einen taillierten Sommermantel und einen orangeroten Seidenschal.
Die Frau trug einen formlosen schwarzen Pullover mit Glitzerschrift und graue Leggings. Ihre Figur war nicht geeignet für Leggings.
»Sie sind die Malerin, was?«, fragte sie schließlich.
Ich nickte.
»Was maln Sie denn so? Könn Sie Hunde? Ich wollte immer ’n Bild von unseren Oluff, so mit Rahmen …« Oluff lag beim Wäscheständer und döste. Er sah aus wie eine Mischung aus Pitbull, Mops und ausrangiertem Sofakissen.
»Ich kann keine Hunde«, sagte ich sehr bestimmt. »Ich wollte René
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