Paradies für alle: Roman (German Edition)
sagte die Marie. »Genau wie deine Brüder. Denken die, ich weiß nicht, dass sie sich in den Büschen verstecken?«
Sie schüttelte den Kopf, und ich dachte, sie würde Lotta die Stufen vor ihrem Haus hinunterschubsen, oder sie vielleicht sogar werfen, weil sie so stark aussah. Aber plötzlich zerbrach ihr ärgerliches Gesicht zu einem irgendwie traurigen Lächeln. »Sollen sie was lernen fürs Leben«, sagte sie. »Und du lauf nach Hause und verdien dein Geld später mal auf ’ne andre Art. Oder heirate ’nen anständigen Mann, du fängst dir schon einen ab mit deinen blonden Haaren, wenn du zusiehst.«
»Ich werde trotzdem arbeiten«, sagte Lotta und sah zur Marie hoch, die über ihr aufragte wie ein Turm. »Ich glaub, ich werde putzen, so Fenster und alles, das kann ich jetzt schon. Da kriegt man auch Geld für. Ich muss was verdienen, vor allem, wenn ich heirate.«
»Ach so?«, fragte die Marie und zog ihre stark geschminkten, wulstigen Augenbrauen zusammen.
»David muss doch denken«, sagte Lotta ernst. »Er denkt, und ich verdiene das Geld, so machen wir das später. Wenn er will.«
»Lotta«, sagte ich, und sie drehte sich um und sah ertappt aus. »Du spinnst total«, sagte ich.
Da hielt ein Auto am Straßenrand neben uns, ein sehr großes, graues, und die Marie sagte »Kundschaft«, und wir gingen ziemlich eilig nach Hause, weil es noch kälter geworden war.
Natürlich heirate ich nicht. Nie und niemanden. Lotta am allerwenigsten. Lotta ist so völlig anders. Sie wird zum Beispiel nie verstehen, über was ich mit Rosekast spreche. Und ich will nicht, dass sie Fenster putzen geht, weil sie für mich Geld verdienen will, das wäre ja wohl das Letzte. Außerdem mag ich Lotta. Ich glaube, wenn man jemanden mag, sollte man den nicht heiraten.
»Ja«, flüsterte ich. »David, vielleicht ist das richtig. Vielleicht hätte ich Claas nie heiraten sollen.«
Ich schlug die Mappe zu, weil sie wieder unleserlich wurde, und ging in das Zimmer, in dem David genauso reglos lag wie seit Tagen. Der Pfleger, der gerade herauskam, grüßte mich stumm und freundlich wie sie alle. Die grüne EKG-Linie lief unverändert über den Bildschirm am Kopfende des Bettes – oder für mich sah sie unverändert aus. Aber ich wusste nicht, was ihre Zacken und Spitzen, ihre Täler und Berge bedeuteten. Claas hätte es gewusst.
»Aber du würdest mir höchstens sagen, dass es etwas Schreckliches bedeutet«, flüsterte ich bitter. »Stimmt’s? Du hast deinen Sohn aufgegeben. Ich bin die Einzige, die daran glaubt, dass er wieder gesund wird.« Ich streckte die Hand aus und fuhr behutsam über Davids Wange. Die Schürfwunde dort begann zu heilen. Die Haut regenerierte sich, die Zellen teilten sich, abgekapselt von Davids Bewusstsein. Sie bereiteten seinen Körper für die Rückkehr jenes Bewusstseins vor, dachte ich, wie jemand, der eine Wohnung aufräumt, weil er die Rückkehr eines geliebten Menschen nach langer Reise erwartet.
»Aber du siehst das nicht so, was, Claas?«, wisperte ich. »Du bist Arzt, du siehst das rational, du siehst nur, was stattfindet, nicht, was zu erhoffen ist. Du hast ihn gleich aufgegeben, gleich als der Anruf kam. David hatte einen Unfall, hast du gesagt, Auf der A 20. Er ist nicht bei Bewusstsein, aber er lebt. Sie haben ihn nach Rostock gebracht. Wir fahren sofort los. Und das war alles. Keine Verzweiflung, keine Regung … nichts.« Ich hieb mit der Faust gegen das Fußende des Bettes.
»Mit wem sprechen Sie?«, fragte Thorsten Samstag hinter mir. Ich hatte ihn nicht kommen hören.
»Mit meinem Mann«, sagte ich.
Samstag sah sich um. »Er ist … nicht da?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Aber das ist ein Dauerzustand. Er ist nie da.«
Und dann spürte ich Samstags Hand auf meinem Arm. Die Berührung löste ein seltsames Kribbeln aus, und ich dachte an ein anderes Kribbeln, eine andere Art Elektrizität, die ich auf einem alten Ledersofa gespürt hatte. Ich wollte nicht daran denken. Ich würde nie wieder mit Claas auf einem Sofa liegen, in diesem Moment war ich mir sicher, es war ein letzter Rückfall gewesen. Ich hatte geglaubt, alles könnte wieder gut werden. Es konnte nicht. Die Mauer um mich war stärker als je zuvor.
»Sie sind so verbittert«, sagte Samstag.
»Schlimmes Wort«, sagte ich.
Seine Hand lag noch immer auf meinem Arm. Ich legte meine eigene Hand, die andere Hand, darauf. Die Haut auf seinem Handrücken fühlte sich fremd und kühl an, und dennoch wurde mir unnatürlich
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