Paradies für alle: Roman (German Edition)
warm in diesem Moment.
»Ich wollte gar nichts Bitteres denken«, murmelte ich. »Ich wollte eigentlich daran denken, dass die Haut in Davids Gesicht heilt. Dass alles … irgendwie … heilen kann.«
»Ja«, sagte Samstag. »Alles kann heilen.«
Er nahm die Hand von meinem Arm, und ich bedauerte das, und ich dachte mein Sohn liegt im Koma, ich kann jetzt nicht mit einem fremden Mann flirten, und dann legte er beide Arme um mich und hielt mich einen Moment lang ganz fest.
»Alles«, wiederholte er flüsternd, »alles kann heilen.«
An diesem Abend malte ich wieder.
Claas war nicht da, als ich nach Hause kam, und ich war dankbar dafür. Ich hatte die Ruhe in Samstags Worten, hatte seine Berührung mit ins Auto genommen, aber sobald ich das Haus betrat, war die Ruhe fort, und ich sah wieder das weiße Krankenhauslaken vor mir und das sehr dünne, einsame eine Bein darunter, das David geblieben war und womöglich nicht bleiben würde.
Vor der Verandatür saß der Hund und sah mich an.
Ich rannte die Treppe hinauf in mein Atelier, riss die Farben und Pinsel an mich wie eine Ertrinkende einen Rettungsring und attackierte die leere Leinwand mit der Gewalt eines Sturms. Die Farben, die ich wahllos daraufklatschte, waren wie Regenböen; ich schleuderte sie diesem falschen unschuldigen Weiß entgegen, kompromisslos und wütend.
Das Rot der Mohnblumen auf den Feldern, die David nie mehr pflücken würde, weil man in einem Rollstuhl schlecht über die Wiesen fahren kann. Das Blau des Himmels, in den er mit Lotta zusammen hinaufgesehen hatte. Das Grün der Wiese neben dem Haus, wo wir Ball gespielt hatten, als er kleiner gewesen war. Und das Gelb der toten Blätter, die im letzten Herbst gefallen waren, als er beschlossen hatte, das Paradies zu erschaffen.
Am Ende riss ich alles von der Staffelei und spannte eine neue Leinwand auf einen neuen, unverbrauchten Rahmen. Aber eine Leinwand reichte nicht, ich brauchte drei, eine große quadratische und zwei schmale, hohe, die ich seitlich der Staffelei plazierte, um sie später zu bearbeiten, Leinwände wie die Seiten eines Altars.
Und ich begann, Gott zu malen.
Die heilige Dreifaltigkeit, Dreieinigkeit, Drei-Unverständlichkeit.
Nicht abstrakt und geometrisch. Nicht in wütenden Farbklecksen. Ich zeichnete nach der Natur, Strich für Strich, in kaum sichtbarer, hellgelber Farbe; eine erste, sorgfältige Vorzeichnung, so wie man eine Wandmalerei in einer Kirche beginnt. Ich zeichnete drei Figuren. Eine von ihnen besaß die Flügel einer Taube, die anderen beiden hatten sich in weite Gewänder gehüllt. Ihre Gesichter waren leere Ovale. Ich würde lange brauchen, um dieses Bild fertigzustellen, um die richtigen Farben zu finden.
»Ein Triptychon für David«, flüsterte ich.
Und dann malte ich der mittleren, größten Figur ein Fratzengesicht. Er war ein Dämon, mein Gott, ein böser Geist, der sich am Leid auf der Welt weidete, an meinem Leid, an Davids Leid, am Leid aller Menschen. Er war ein Geschöpf der Nacht. Ein Geschöpf der Dämmerung auf einer Autobahn.
Meine Hand zeichnete weiter, als mein Kopf längst damit aufgehört hatte. Und ich sah am unteren Rand des Bildes Gestalten aus dem weißen Nichts der Leinwand treten: Lotta, René, Celia mit dem Neugeborenen, eine alte Frau zwischen Johannisbeerbüschen, Herrn Wenter mit einem Arztroman in der Hand, ein Bushäuschen voller biertrinkender Jungen, Kühe, die Marie, einen Mann im Regenmantel …
Zuerst, dachte ich, waren die Figuren in Davids Projekt übersichtlich gewesen, aber es wurden mit jedem Eintrag mehr, sie bewegten sich aus dem Schatten ins Licht: ein abstruses Ballett, ein irrer Reigen, ein Totentanz. Ich verbot mir, dieses letzte Wort zu denken.
Und dann, ganz plötzlich, wusste ich, was ich tun würde.
Ich saß auf dem Boden, außer Atem, den Pinsel noch in der Hand, und wusste es.
»Ich übernehme«, flüsterte ich. »David, ich führe dein Projekt weiter. Die Werkstatt zur Verbesserung der Allgemeinen Gerechtigkeit. Ich kann mehr tun als du, die Erwachsenen sitzen immer am längeren Hebel, leider … Ich werde eine Liste machen … David …«
»Ja«, sagte David. »Mach das, Lovis. Zuerst muss man immer eine Liste machen.«
Ich sah auf, und da stand er im offenen Fenster des Ateliers, die Füße auf dem Fensterbrett. Sein Haar leuchtete so golden wie nie.
Er trug sein rot-grünes Lieblings-Sweatshirt und Jeans, und ich fragte mich verwirrt, ob eines seiner Beine in Wirklichkeit eine
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