Paradies für alle: Roman (German Edition)
musste das sein! Aber vielleicht dachte er ja. Vielleicht dachte und dachte und dachte er, dachte nach über Philosophie und Religion, über Lieben und Leiden und Leben und Tod und konnte niemandem jemals sagen, zu welchen Schlüssen über die Welt er gelangte. Vielleicht wusste er, was David am zweiten Mai auf der Autobahn gemacht hatte und konnte es mir nicht sagen, gefangen in seinem Hundekörper mit seiner Hundezunge, die keine Worte zu formen imstande war.
Ich fuhr über die Brücke, und die Zeit glitt neben mir auf den Wellen vorüber, Sekunden, Minuten, Stunden von Lebenszeit. War die von Frau Hemke schon abgelaufen? Und meine … und Davids?
Friedensstift lag »in einem hübschen Seebadeort direkt an der offenen Ostsee«, in der Realität in fünfter Reihe hinter den anderen Hochhäusern des Seebadeortes. Der Parkplatz war ein Traum in Beton.
Als ich durch die sich automatisch öffnende Eingangstür trat, war ich mir auf einmal sicher, dass Frau Hemke tot war.
Ich fragte den Pförtner, der seine Augen nur ungern von der Bild-Zeitung löste und in einem großen Buch nachsah.
»Margarete Hemke«, sagte er. »Vierter Stock, Zimmer 234. Der Hund geht aber nicht.«
»Gut«, sagte ich, »dann trage ich ihn.«
Die Tür mit der Nummer 234 stand einen Spaltbreit offen. Als hätte Frau Hemke mich erwartet.
Ich stieß die Tür ganz auf und trat leise ein, den Hund neben mir.
Das Zimmer war sehr leer. Frau Hemke stand mitten darin wie das einzige Möbelstück (obwohl es natürlich Möbel gab, einen Tisch, zwei Stühle, ein Bett). Sie war klein und weißhaarig und trug einen beigen Trainingsanzug. Ich sah sie an und erinnerte mich nicht an sie, obwohl ich sie gesehen haben musste, im Dorf, irgendwann.
Einen Moment lang betrachtete sie mich wie ein zweites Möbelstück, das eben geliefert worden war, ohne dass man sie gefragt hatte, und das nun neben ihr in diesem Raum existieren würde. Dann, ganz plötzlich, verzogen sich ihre schmalen Lippen zu einem Lächeln. Sie überquerte die Distanz aus hellblauer Einlegeware, die uns trennte, sehr vorsichtig, streckte eine Hand aus und berührte mein Haar.
»David«, sagte sie.
»Nein«, sagte ich, »ich … ich bin nicht …«
»Sie sind seine Mutter«, sagte Frau Hemke freundlich, als müsste sie mir diesen Umstand erklären und als könnte mich die Tatsache, dass ich nicht David war, enttäuschen. »Sie haben das gleiche Haar wie er.«
»Ich habe Ihnen Kekse mitgebracht«, sagte ich und hielt die Dose hoch, während ich mich in dem kahlen Raum umsah. »Haben Sie wirklich nichts mitgenommen? Weil nichts im Grunde fast dasselbe ist wie alles?«
Frau Hemke schüttelte den Kopf und lächelte wieder oder noch immer. »Kekse«, wiederholte sie. »Kommen Sie.«
Sie führte mich zu einem Fahrstuhl, und wir fuhren einen Stock hinauf, in den fünften. Dort gab es einen Aufenthaltsraum mit blassgelben Wänden und einem exotischen Topfgewächs. Auf den Tischen lagen Häkeldeckchen mit winzigen Trockenblumengestecken. Ich stellte die Keksdose neben eines von ihnen, auf einen Tisch am Fenster. Hinter den Hotels und Hochhäusern winkten die blauen Wellen, und wir setzten uns hin und sahen sie nicht an. Es schien mir wichtig, dass auch ich sie nicht ansah; dass ich Frau Hemke meine Sympathie für ihr Nicht-Ansehen der Wellen zeigte.
Sie nahm einen Keks und drehte ihn zwischen ihren Fingern wie ein Kunstwerk. Dabei war es kein besonders schöner oder besonders liebevoll gestalteter Keks. Es war ein Mürbeteigkeks, annähernd rund, von einer Teigrolle abgeschnitten. Frau Hemke fuhr mit dem kleinen Finger der linken Hand seinen ausgefransten Rand entlang.
»Er hat mich gezwungen, etwas mitzunehmen«, sagte sie. »Ich weiß noch … er hat auf meinem Sofa gesessen und gelesen, und ich habe den Koffer gepackt. Wenigstens Kleider, hat er gesagt, und ein Kopfkissen. Damit etwas nach zu Hause riecht. Er hatte recht, und dann auch wieder nicht. Wenn etwas nach zu Hause riecht, macht es das Heimweh schlimmer. Er hat gesagt, das ist gut. Solange es weh tut, ist man ja noch lebendig. Ich habe ihm zum Abschied das Buch geschenkt, das er gelesen hat, weil er sagte, es wäre vielleicht nützlich …« Sie biss sehr vorsichtig in den Keks, kaute sorgfältig, schluckte. Es war ein Ritual. Ich gab dem Hund ebenfalls einen Keks.
»Er hat mir geschrieben.«
»Wie?«
»David hat mir geschrieben.«
Sie griff in die Tasche ihres Trainingspullovers und legte drei Postkarten auf den Tisch,
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