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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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stand. Es war ein Irrtum, in diesem Moment begriff ich es endlich ganz. Lovis Berek war überhaupt niemand, war machtlos, war nie mehr gewesen als das kleine schüchterne Mädchen von damals, das den Anschluss an die Welt der normalen Leute verpasst hatte.
    »Sein Körper ist dem Fieber nicht gewachsen«, sagte Thorsten, und ich fuhr herum. Sein blondes Haar war zerzaust wie immer, das blaue und das braune Auge schienen schon wieder in verschiedene Richtungen zu blicken, aber es beruhigte mich, diese Augen zu sehen, die ich nicht hassen musste, nicht so wie die von Claas.
    »Wir helfen ihm«, sagte Thorsten, »so gut wir können. Er bekommt starke Medikamente. Die Antibiose scheint allerdings nicht richtig anzuschlagen. Wir warten noch auf das Ergebnis aus dem Labor. Wegen des Keims.«
    Er ging um das Bett herum, nahm Davids andere Hand und blieb eine Weile so an seinem Bett stehen.
    »Was denkst du?«, fragte Thorsten.
    »Dass man nicht aufgeben darf«, antwortete ich. »Wenn es hilft … Meinst du, es hilft, wenn ich hier bleibe? Wenn ich weiter hier sitze und seine Hand halte? Er wird dieses Fieber besiegen … irgendwie … vielleicht wird er wach, wenn das Fieber besiegt ist. Du … du hast doch auch Kinder, oder? Erzähl mir von deinen Kindern.«
    »Nein«, sagte Thorsten. »Erzähl du mir von David. Von seinem Projekt. Der Paradieswerkstatt. Hast du weitergelesen?«
    Ich nickte. Und dann erzählte ich ihm von Weihnachten und den leeren Kartons und den Keksen, und davon, wie ich Claas im Maiblütenschnee gefunden hatte, und was Claas gesagt hatte.
    »Wie sind seine Chancen?«, fragte ich schließlich, meine Hand im Fell des Hundes, das sich warm und tröstend anfühlte.
    »Niemand weiß das«, sagte Thorsten und schüttelte den Kopf. »Es gibt immer Wunder. Aber sie sind nicht häufig.«
    »Wunder kann es nur geben, wenn man an sie glaubt«, sagte ich. »David hat zum Beispiel über Jesus nachgedacht … über die Wunder, die er vollbracht hat. Claas hat ihn belächelt deswegen. Claas ist …« Ich merkte, wie die Wut zurückkam, und kämpfte sie gewaltsam nieder. » … so dumm! Wenn man nicht an Wunder glaubt, kann man sich gleich begraben lassen.« Ich sah auf die Uhr. »Wie kannst du hier sitzen und mir zuhören – schon wieder? Du hast Patienten … andere Kinder mit anderen Eltern … du hast zu tun.«
    »Ich habe seit drei Stunden frei«, antwortete Thorsten. Dann beugte er sich vor und strich David die Haare aus der Stirn, so wie ich es manchmal tat.
    »Meine Kinder«, sagte er leise. »Du wolltest etwas über meine Kinder wissen. Leon und Hanna. Sie sind tot. Autounfall. Leon war so alt wie David.«
    »Wie lange …«, begann ich.
    »Fünf Jahre«, sagte er. »Es ist fünf Jahre her.«
    »Und ihre … Mutter?«
    »War mit ihnen im Auto«, sagte Thorsten und stand auf.
    »Das tut mir …«
    »Sag es nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Das sagen alle.«
    »Und wenn ich es meine?«
    »Das sagen auch alle. Ich habe es dir nur erzählt, damit du weißt, warum ich dir zuhöre. Manchmal … sitze ich alleine bei David, wenn keiner von euch beiden da ist … weder Claas noch du …« Er stand auf, die Hände auf Davids Bettkante, den Blick seiner verschiedenfarbigen Augen auf Davids Gesicht. »Ich hatte nie eine Chance, mich zu verabschieden«, sagte er leise. »Es ging alles sehr schnell. Sie waren sofort tot. Sie standen im Stauende auf der Autobahn. Auch eine Autobahn … Ein Lastwagenfahrer hat nicht rechtzeitig gebremst. Vielleicht war er eingeschlafen … keiner wird es jemals wissen. Leon war so alt wie David, ziemlich genau. Es ist …« Er hob die Hände, wollte noch etwas sagen, ließ sie wieder sinken, schwieg.
    Da ging ich um das Bett herum, zu ihm, und umarmte ihn, und er umarmte mich zurück.
    In diesem einen Moment dachte ich nicht an die Mauer.
    »Nimm den Hund und fahr zu Frau Hemke«, sagte er. »Du kannst im Arztzimmer im Computer nachsehen, wo dieses Altersheim ist. Ich bleibe hier und warte auf das Labor wegen der Antibiose.«

    Das Seniorenheim Friedensstift war auf der Insel, ich musste zurück nach Stralsund, um über die Brücke zu kommen, es war eine lange Fahrt. Der Hund lag quer über die Rücksitze hingegossen und schlief, den Kopf auf den Pfoten. Es regnete, der Himmel war grau, übersät mit einzelnen unschlüssigen Möwen, und ich hätte gerne für Momente mit dem Hund getauscht. Auf der Rückbank eines Autos zu schlafen, nichts zu denken … wie wunderbar

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