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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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wozu?
Sie hatte ihre schlanken Arme ausgestreckt und ihre Hände aufs Fensterbrett gestützt, als wollte sie sich daran hochstemmen, aber es war Jarsen, der sie hochgehoben hatte, seine Hände hielten ihre Hüften umfasst, und er bewegte sich in einem irgendwie unangenehmen, abgehackten Rhythmus auf und ab. Ich konnte seine nackten Pobacken sehen und die Haare an seinen Beinen. Und ich hörte ihn atmen. Sie übrigens auch, sie atmete schneller. Zusammen ergab es ein Geräusch, das Übelkeit in mir weckte, ich weiß nicht, wieso. Es war ziemlich klar, was die beiden da taten, und ich weiß nicht, warum ich so lange hinstarrte, ich konnte nicht anders. Einmal habe ich die Hunde im Dorf dabei beobachtet, die atmeten genauso. Es ist doch komisch, was man sagt über Menschen, sie würden sich lieben, wenn sie das tun, aber nach Liebe sah die ganze Sache überhaupt nicht aus, mehr wie etwas, das man hinter sich bringen muss, das anstrengend ist und unangenehm.
Das Atmen ging in ein Stöhnen über, als hätten die beiden am Fenster Schmerzen, und in diesem Moment drehte die Frau ihr Gesicht zur Seite, so dass wir ihr Profil sehen konnten. Es war nicht die Frau auf dem Bild, trotz aller Ähnlichkeit. Es war Livia.
Ich spürte, wie Lottas Hand sich in meinen Arm krallte und gleich darauf an meinem Ärmel zog. Ich riss mich von dem Anblick der Beinahe-Hunde am Fenster los. Lotta zeigte zum Waschbecken. Sie huschte hinüber, hob etwas auf und huschte zurück. Das Stöhnen am Fenster schwoll jetzt an, es quoll aus den Mündern der beiden dort wie ein giftiges Gas, und ich wollte mir die Ohren zuhalten. Die Klaviermusik drüben, dachte ich, kam also vom Band.
Lotta zeigte mir den Gegenstand, den sie vom Waschbecken geklaubt hatte: Jarsens Uhr. Sie schlenkerte damit, triumphierend – etwas zu triumphierend, denn die Uhr stieß an den Türrahmen, und mitten in ihrem eigenen, giftigen Stöhnen müssen Livia und Jarsen oder Livia oder Jarsen das gehört haben, denn sie froren in der Bewegung ein.
Und dann drehten sie sich um.
Vielleicht.
Ich weiß es nicht, denn da waren wir schon nicht mehr da, wir rannten. Wir rannten den Flur entlang, die Treppe hinunter, schneller! Schneller! Wir rannten durch die Eingangshalle, ich voraus, wir rannten auf die Tür zu – aber die Tür war verschossen, natürlich, die Vordertür war immer verschlossen. Ich hörte jetzt Schritte oben, am Kopf der Treppe. Als ich mich zu Lotta umdrehte, waren ihre Augen groß vor Angst, sie hielt Jarsens Armbanduhr noch immer umklammert. Bis zur Seitentür würde es zu lange dauern. Er hatte uns.
»Scheiße«, sagte Lotta. In diesem Moment fiel mir etwas ein, und ich zog Lotta mit mir mit – zwischen die Jacken und Mäntel hinein, die da hingen. Sie waren wie ein Wald; sie waren das perfekte Versteck. Falls Sie das nicht wissen: Im zweiten Band von Narnia ist es genauso, und deshalb fiel es mir ein, weil ich das zuletzt gelesen hatte. Zum dritten Band bin ich nicht mehr gekommen, weil ich dann die Paradieswerkstatt angefangen habe, aber im zweiten verstecken sie sich im Wandschrank zwischen den Mänteln, und obwohl dies kein Schrank war, war es doch eine gute Idee. Literatur kann Leben retten. (Das ist ein prima Satz, wie.)
Wir standen ganz still, sicherheitshalber legte ich einen Arm um Lottas knochige Schultern, damit sie sich nicht rührte. Jarsen war jetzt auf der Treppe, wir hörten seine Schritte, und dann war er in der Halle, ganz nah. »Hallo?«, rief er. »Hallo? Ist da wer? Verdammt. Ich hätte schwören können … jemand war da … Hallo?«
Die Schritte gingen quer durch die Halle, entfernten sich, kehrten zurück. Wenn er jetzt unsere Füße sah, die nicht unter die Mäntel in der Garderobe gehörten … was würde er mit uns machen? Würde er uns irgendwo einsperren, so wie Tielow Lotta in den Hundezwinger gesperrt hatte? Unsere Eltern anrufen? Die Polizei?
Ich machte noch einen Schritt zurück. Bei Narnia käme hier der Winterwald, dachte ich, er würde direkt hinter den Jacken anfangen. Es war nicht der Winterwald, an den ich stieß. Es war ein Knauf. Ich tastete mit einer Hand hinter meinem Rücken. Der Knauf zu einem Schrank, einem hohen, schmalen Metallschrank verborgen hinter den Mänteln. Jarsens Schritte blieben einen Moment stehen. Dann gingen sie die Treppe hinauf. Ich atmete auf und spürte, wie auch Lotta aufatmete. Wir warteten eine ganze Weile, ehe wir zwischen den Jacken hervorschlüpften. Ich schob die Bügel auseinander, und

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