Paradies für alle: Roman (German Edition)
falls der doch noch Geld will … tausend Sachen!
Ich werde mir Lovis Fotoapparat noch einmal ausleihen.
»Lieber Gott«, sagte ich zum Meer. »Wenn es dich gibt, irgendwo, auf irgendeine Weise … mach, dass er das nicht getan hat. Er hat Jarsen nicht erpresst. Ein neunjähriges Kind … er darf das nicht getan haben. Der Zweck heiligt niemals die Mittel, hat ihm Rosekast das nicht gesagt? Und … einen Mann mit einem Schrank voller Gewehre. Nein!« Das Meer schlug seine Wellen vor mir auf den Strand und antwortete mir nicht, oder es antwortete mir und ich verstand es nicht. Womöglich, dachte ich, war es mit Gott ähnlich – falls er da war, verstanden wir ihn nicht.
»Unsinn«, sagte ich und stand auf. Ich war steifgefroren. Es dämmerte bereits, die Sonne hatte sich hinter der Ausrede des Abends verkrochen. Ich musste zu David. Vielleicht war das Labor da, vielleicht hatten sie die Antibiose schon umgestellt, vielleicht ging es ihm besser.
Ich ließ den Hund im Auto. Er schlief mal wieder, sehr fest diesmal. Es war spät.
Die Tür zu Davids Zimmer war geschlossen. Sie war nie zuvor geschlossen gewesen, alle Türen zu allen Zimmern auf der Intensivstation standen offen. Da war ein Wagen an der Wand neben der Tür mit einer Packung Gummihandschuhe darauf und einer Packung, aus der ein grüner Mundschutz ragte; mit anderen, unübersichtlich plastikverpackten Dingen, ebenfalls grün.
Mein ganzer Körper wurde taub, als ich den Wagen sah, als hätte jemand alle Nervenbahnen auf einmal durchgeschnitten.
»Was … was ist hier los?«, fragte ich die Schwester, die vorbeikam, eine junge Schwester, hundert Jahre jünger als Schwester Erika.
»MRSA«, sagte sie. »Sie müssen sich umziehen, um reinzugehen.«
»MRS- was?«, fragte ich und hörte die Panik in meiner unnatürlich hohen Stimme.
»Ein multiresistenter Keim«, erklärte die junge Schwester. Sie sah müde aus. Sie hatte es eilig. Sie versuchte, aufmunternd zu lächeln. »Sie brauchen einen Mundschutz und so einen Einmalkittel, hier, nehmen Sie sich einen aus der Packung, hinterher kommen die Sachen in den Abwurf an der Tür innen, eine Tüte, Sie finden das schon …«
»Ist ein Arzt da?« Meine Stimme war noch höher geworden, sie war jetzt kurz davor, sich zu überschlagen. »Jemand, mit dem ich sprechen könnte?«
»Herr Menowski. Ich schicke ihn zu Ihnen, sobald er Zeit hat …«
»Danke«, sagte ich und meinte es nicht. Was sollte ich mit einem Menowski. Ich wollte mit Samstag reden. Aber natürlich musste auch Samstag irgendwann schlafen.
Samstag schlief. Auf einem Stuhl neben Davids Bett. Er war so merkwürdig grün eingekleidet wie ich auch, der Mundschutz war ihm vom Gesicht gerutscht, er hatte die langen Beine ausgestreckt, und sein Kopf war gegen die Rückenlehne des Stuhls gesackt. Die Schwester wusste vermutlich nicht einmal, dass er da war.
Ich trat ans Bett, vorsichtig, und sah David an: ich, ein kleines, ängstliches Mädchen, verkleidet als Geist in einem grünen Einmalkittel, mit einer grünen Einmalhaube und grünen Einmalüberziehern über den Schuhen. Wie konnte ein Einmalkittel David retten? Ich streckte eine Hand in einem Einmalhandschuh aus und legte sie auf seine Wange. Sie fühlte sich ein klein wenig kühler an als zuvor, aber vielleicht war das Einbildung.
Bekam er jetzt andere Antibiotika? Ich konnte die Aufschrift auf den Flaschen im Infusionsständer nicht deuten, genauso wenig wie die neongrüne EKG-Linie auf dem Monitor. Ich sah nur, dass die Linie sich auf und ab wölbte, sich zackte, sich zuspitzte und wieder zurückfiel, in einem regelmäßigen Muster. Davids Herz arbeitete, stetig, zuverlässig, es hatte nicht aufgegeben, genauso wenig wie ich, und nach einer Weile atmete ich ruhiger.
»Samstag?«, flüsterte ich. »Thorsten?« Aber ich flüsterte sehr leise. Ich wollte ihn gar nicht wirklich wecken. Ich setzte mich auf den Stuhl, der neben seinem Stuhl stand, nahm mit meiner Handschuhhand Davids handschuhlose Hand.
Herr Menowski vergaß mich. Ich wartete lange sehr halbherzig auf ihn.
Schließlich schloss ich die Augen. Ich merkte noch, wie mein Kopf beim Einschlafen gegen Thorstens Schulter glitt, aber ich war zu müde, um mich zu fragen, ob ihn das störte.
9.
»Ein MRSA«, wiederholte ich. »Ich habe das auch erst gelernt, es bedeutet, dass der Keim, den er hat, gegen so ziemlich alle Medikamente resistent ist. Also, dass die meisten Medikamente nicht mehr helfen. Nur noch ganz wenige.
Weitere Kostenlose Bücher