Paradies für alle: Roman (German Edition)
gerne zuschlagen. Aber das tut man wohl nicht als Mann.« Dann stand er auf. Er stellte seine Kaffeetasse in die Spüle und ging die Treppe hinauf. Ich blieb mitten in der Küche stehen, vor dem umgekippten Stuhl, ich hörte Claas oben irgendetwas herumschieben, und als er wieder herunterkam, trug er seinen alten Koffer. Ich hatte ihn mit diesem Koffer kennengelernt, es war ein klobiges Ding aus Pappe und Leder, wir hatten ihn auf unseren ersten gemeinsamen Reisen mitgeschleppt, was nicht praktisch gewesen war, und später hatte David eine Zeitlang darin gewohnt, er war drei oder vier gewesen und hatte uns erklärt, der Koffer wäre sein Haus.
Claas stand einen Moment lang am Fuß der Treppe und sah mich an. Er sagte nicht »Auf Wiedersehen«. Ich sagte nicht »Ade«. Er sagte nicht: »Dieses und jenes müssten wir noch regeln.« Ich sagte nicht: »Lass uns noch einmal von vorne beginnen.«
Er stellte den Koffer ab und kam zu mir, streckte die Hand aus und berührte meine Wange, für Sekunden nur. Und dann sagte er doch noch etwas. Er sagte: »Kümmre dich um die Schafe.« Das war alles. Danach drehte er sich um, nahm den Koffer und ging. Diesmal ging er auf andere Art als beim letzten Mal, nicht wie einer, der im Streit davonläuft, sondern wie einer, der geht, nachdem der letzte Satz eines Theaterstücks gesprochen worden ist, ehe der Vorhang zufällt.
Kümmre dich um die Schafe.
Ich trat erst vor die Vordertür, als ich mir sicher war, dass ich das Auto nicht mehr sehen würde. Die alte Kopfsteinpflasterstraße lag leer da, und etwas fiel von mir ab wie eine alte Haut. Die Haut der Lovis Berek, die mit Claas Altenau verheiratet gewesen war.
»Ich bin frei«, sagte ich leise. Es klang nicht überzeugt.
Aus dem Briefkasten lugte die weiße Ecke eines Briefs, und ich zog ihn hervor.
An Frau Lovis Berek im alten Pfarrhaus stand darauf, von: H. Rosekast. Keine Adresse. Die Schrift war ungelenk und krakelig, die Schrift eines alten Menschen, dessen Hand ihm nicht mehr so gehorcht, wie er es gern hätte. Ich riss den Umschlag mit dem Zeigefinger auf. Darin steckten zwei ausgeschnittene Zeilen aus einer Zeitung. Nein, nicht aus einer Zeitung. Aus einem Buch mit sehr dünnem Papier. Jemand hatte diese Zeilen mit einem orangen Marker angestrichen, ehe sie ausgeschnitten worden waren.
Niemand weiß, was der Tod ist, ob er nicht für den Menschen das größte ist unter den Gütern. Sie fürchten ihn aber, als wüssten sie gewiss, dass er das größte Übel ist.
Ich starrte den Satz eine Weile an.
»Rosekast«, sagte ich dann laut. »Sie sind ein Feigling. Haben Sie keine eigenen Worte? Was soll ich mit einem ausgeschnittenen Zitat? Zitat von wem überhaupt? Und was wollen Sie mir sagen? Dass Sie so denken wie Claas? Dass David stirbt? Und dass es, schlimmer noch, in Ordnung geht, wenn er stirbt?«
»Ich bin hier, um die richtigen Fragen zu stellen«, hatte er zu David gesagt.
»Die Frage hier lautet«, flüsterte ich, »was kommt nach dem Tod?« Es war im weiteren Sinne die Frage, mit der alles begonnen hatte. Davids Frage. Gab es nichts oder ein Nichts, ein Nirwana – ein Paradies? Ein Paradies für alle Menschen oder ein privates für jeden? Zurzeit sah es so aus, als bestünde dieses Dorf – wie vermutlich jeder andere Ort – aus einer Menge ganz privater Höllen.
Und doch ist Davids Paradies hier, dachte ich, zwischen diesen Kastanienbäumen, in dieser alten Pflasterstraße, und im Wald und auf den Feldern. Ich würde helfen, die privaten Höllen in sein Paradies zu verwandeln. So gut ich eben konnte. David brauchte nicht zu sterben, um das Paradies zu finden. Nur nach Hause zu kommen.
An diesem Tag reparierte ich die Tarzanschaukel. Ich fand ein altes Tau in unserem Schuppen, wir hatten einmal eine eigene Schaukel besessen, bestehend aus einem Traktorreifen, der an einem sehr hohen Kastanienast hing, aber der Kastanienast, der einzig schaukelgeeignete, war bei einem Sturm gebrochen. Ich nahm das Tau mit zum Waldrand, ging daran entlang, fand den Graben.
Es war schwierig, an das abgeschnittene Ende des Seiles heranzukommen, ich musste es mit einem Stock vom Rand des Grabens her angeln, weil ich zu klein war, wenn ich in der Mitte des Grabens stand. Doch als es mir gelang, als ich altes Tau und altes Tau zusammenknotete, fühlte ich mich besser.
Vielleicht war es nötig gewesen, etwas, irgendetwas, zu reparieren. Mir selbst zu beweisen, dass ich irgendetwas reparieren konnte. Wenn ich die
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