Paradies
ganz Serbien in den Ruin getrieben haben. Wenn die KOS die nötige Macht gehabt hätte, wäre Jugoslawien nach wie vor eine Großmacht, ein ungeteiltes Großserbien. Wir hätten niemals zugelassen, dass das Land zerfällt.«
Er blieb mit hängendem Kopf und die Ellenbogen auf die Knie gestützt sitzen. Annika wagte nicht, sich von der Stelle zu rühren.
»Bis Ende der achtziger Jahre gab es noch so etwas wie Moral auf dem Balkan«, sprach er leise weiter, »einfache Normen und Werte, aber dann ist die Barbarei ausgebrochen. Männer wie Ratko bekamen Macht, Schläger, kriminelle Idioten.«
Annika befeuchtete ihre Lippen und weigerte sich, wieder den metallischen Geschmack zu spüren.
»Wer ist Ratko eigentlich?«
Der alte Mann seufzte und richtete sich auf.
»Er stammt aus einer wohlhabenden Familie, die bei den Enteignungen durch die Kommunisten ihr ganzes Vermögen verloren hat. Sein Vater ist dann Gießer geworden, ein ehrbarer Fabrikarbeiter, aber die Familie fühlte sich in ihrer Ehre gekränkt. Ratko beschloss, jemand zu werden. Er ist nach Schweden gegangen, um hier sein Glück zu machen, und landete ganz unten in einer Lastwagenfabrik. Er sah seine Landsleute an Berufskrankheiten zu Grunde gehen und schlug einen anderen Weg ein: den des Berufsverbrechers.«
Er trank einen Schluck.
»Ratko und sein Vater meinen, die neuen Gesetze würden für sie nicht gelten. Sie sind der Meinung, dass der Kommunismus ihnen alles, was sie hatten, geraubt hat, ihnen ihre Geschichte und ihre Würde genommen hat. Das Gesetz ist Ratkos Feind, ihm zu folgen bedeutet, alles zu verlieren. Das Einzige, was den Menschen überhaupt antreibt, ist seine Gier, seine Gewinnsucht, materielle Dinge.«
»Das ist nicht wahr«, widersprach Annika ihm.
»Nur der Staat kann die nötige Verantwortung für die Menschen übernehmen«, sagte der Mann.
»Aber wir sind doch selber der Staat«, erwiderte Annika. »Der Staat kann doch niemals besser sein als die Menschen, die ihn repräsentieren.«
Er sah sie an.
»Die Gesellschaft ist immer größer als das Volk. Wenn wir uns als unabhängige Individuen betrachten, siegt der Egoismus.«
»Das ist nicht gesagt«, widersprach Annika. »Die Bürger sind der Staat, und die Verantwortung können wir niemand anderem aufbürden als uns selbst. Wir selbst gestalten unsere Zukunft, wir sind der Staat. Wir tragen Verantwortung füreinander, und diese Verantwortung müssen wir annehmen. Ein einzelner Mensch kann Großes leisten!«
»Und dann geht alles zum Teufel!«, rief der Mann aus und hämmerte wieder mit der Faust auf den Nachttisch. »Sehen Sie sich doch Serbien an! Als Milosevic sich selber über den Staat stellte, ging alles den Bach runter! Der RDB hat nicht das erforderliche Wissen, obwohl er alle Mittel zur Verfügung gestellt bekommen hat. Sie setzen sie völlig falsch ein, missbrauchen ihre Macht, unterstützen die kriminelle Szene…«
Er verstummte ein wenig atemlos.
Annika starrte ihn an. Schweiß perlte auf seiner Kopfhaut.
»Wie viel wissen Sie eigentlich?«, fragte sie leise.
»Ich weiß alles.«
»Alles?«
»Alles.«
»Auch über die Mafia?«
Der Mann sah sie intensiv an, studierte ihr Gesicht, ihre Haare, ihre Hände.
»Sie sind doch eine Kämpferin für das freie Wort«, sagte er. »Können Sie alle Wahrheiten schreiben?«
»Solange ich sie kontrollieren kann und sie von Interesse für die Allgemeinheit sind.«
»Aha!«, sagte der Mann. »Und wer beurteilt das?«
»Zunächst ich selbst, dann meine Redaktionsleitung.«
»Die Zensoren«, konstatierte der alte Mann.
»Nein!«, widersprach Annika. »Wir arbeiten einzig und allein im Dienst der Wahrheit.«
»Sie werden es nicht wagen, meine Wahrheit zu bringen«, sagte der Mann. »Niemand kann veröffentlichen, was ich weiß.«
»Dazu kann ich nichts sagen, ich kenne Ihr Wissen ja nicht.«
Der Mann sah sie lange an, und ihr wurde unwohl in ihrer Haut.
Sie fühlte sich nackt.
»Haben Sie einen Stift dabei? Einen Notizblock? Na schön, dann schreiben Sie doch auf, was ich zu sagen habe. Wir werden ja sehen, ob Sie dann auch wagen, es zu veröffentlichen.«
Annika bückte sich, griff nach ihrer Tasche und holte Stift und Notizblock heraus.
»Also?«, sagte sie.
»Die Mafia ist der Staat«, begann der alte Mann, »und der Staat ist die Mafia. Alles wird von den Machthabern in Belgrad kontrolliert. Der RDB, der Geheimdienst des serbischen Innenministeriums, hält alle Fäden in der Hand. Der Waffenschmuggel ist die
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