Paradies
Schweden gibt es Waffenverstecke«, sagte er. »Lager mit Rauschgift, Alkohol, Zigaretten, ganze Häuser voller Serben ohne Aufenthaltsgenehmigung, Lastwagen, Autos, Boote.«
Annika schluckte.
»Wissen Sie, wo?«
Er sah sie an, nickte und begann zu erzählen.
Als er verstummte, spürte Annika das Adrenalin in ihren Adern, die Geschichte war einfach unglaublich.
»Aber was passiert, wenn ich das alles unter meinem eigenen Namen veröffentliche? Wird die Mafia mich dann nicht verfolgen?«
Der alte Mann sah sie müde an.
»Sie haben Angst um Ihre Haut? Sind Sie etwa wichtiger als die Wahrheit? Kann Ihr Staat aus freien Bürgern sich nicht um Sie kümmern und Sie beschützen?«
Sie wich seinem Blick aus und wurde rot.
»Sie müssen wissen«, fuhr der Mann fort, »dass es hier um nichts Persönliches geht, es ist nur Geschäft. Ratko hat keine Freunde mehr, niemand wird Sie als persönliche Vendetta aus dem Weg räumen. Wenn Sie die kriminellen Strukturen zerschlagen, gibt es niemanden mehr, der Ihnen etwas antun kann, niemand wird mehr Interesse daran haben.«
Annika sah auf.
»Aber was ist mit der Botschaft, wenn es wirklich stimmt, was Sie sagen, und sie hinter allem steckt?«
»Die jugoslawische Botschaft wird Ihre beste Lebensversicherung sein. Es wird in ihrem persönlichen Interesse liegen, dass Ihnen nichts zustößt. Dagegen würde ich Ihnen empfehlen, in der nächsten Zeit keine Reisen in die Balkanregion zu unternehmen. Dort könnten Sie unter Umständen den falschen Personen begegnen.«
Sie blickte auf ihre Aufzeichnungen und räusperte sich.
»Was geschieht mit Ratko?«
Der Mann zögerte.
»Ratko ist abgehauen, niemand weiß, wohin. Sobald er sich in Europa zeigt, ist er ein toter Mann. Ich vermute, dass er nach Afrika gereist ist, zu einem der Abnehmer seiner Waffen.«
»Was geschieht mit Ihnen?«, flüsterte Annika.
Der alte Offizier stand wieder auf, ging zum Fenster und sah auf den Platz hinunter, der im fahlen Licht der Abenddämmerung grau war.
»Ratko hat die ganze Familie ermordet, außer Aida. Das war im März 1992, und es war der Beginn der Gewalt in Bosnien.«
Annika stöhnte auf.
»Oh, mein Gott, die ganze Familie?«
»Jovan, seine Frau, die schwangere Frau seines Sohnes, ihren jüngsten Sohn, der erst neun Jahre alt war. Jovans Sohn war in der Armee und starb ein halbes Jahr später an der Front.«
»Er hat sie alle ermordet?«
Der Mann sprach weiter, den Blick fest auf das Dreiecksmuster des Platzes gerichtet.
»Ratko und seine Panter. Politische Spannungen hatte es schon länger gegeben, und in Kroatien wurde bereits gekämpft, aber das Massaker in Bijeljina war das erste in Bosnien, das Aufmerksamkeit erregte.«
»Und unter den Opfern war Aidas Familie?«
»Ich weiß nicht, warum sie überlebt hat, sie hat es mir nie erzählt.«
»Was ist mit ihr geschehen? Wie kam sie hierher?«
Der Mann starrte auf den Platz hinaus, auf den jetzt Schneeflocken herabschwebten.
»Sie war damals siebzehn, und soweit ich weiß, ging sie unmittelbar nach den Morden zu Fuß nach Tuzla. Per Anhalter fuhr sie dann nach Sarajewo weiter und ließ sich dort von der Armija BiH anwerben. In Sarajewo lebte ihr Onkel, Jovans jüngerer Bruder, der sie in seine
Speciale diversanskij group
aufnahm.«
Annika wartete atemlos auf die Fortsetzung, die Tränen hingen auf ihren Lippen.
»Und?«, fragte sie.
»Speciale diversanskij group«,
wiederholte der Mann, wobei er jedes Wort einzeln betonte. »Sie wurde ein Sniper. Als ich das hörte, nahm ich meine schützende Hand von ihr und brach jeden Kontakt zu ihr ab.«
Annika blinzelte verständnislos.
»Heckenschütze«, sagte der alte Mann unendlich müde. »Sie ließ sich zum Heckenschützen ausbilden, lag auf Häuserdächern und erschoss Menschen auf der Straße, Männer, Frauen, Kinder, ohne einen Unterschied zu machen.«
Annika konnte nicht atmen.
»Nein…«
Er drehte sich um und sah sie an.
»Ich kann Ihnen versichern«, sagte er, »dass sie ziemlich gut war.
Nur Gott allein weiß, wie viele Menschen Aida getötet hat.«
Er setzte sich wieder ihr gegenüber.
»Das wussten Sie nicht?«, fragte er.
Annika schüttelte den Kopf.
»Wie«, sagte sie und schluckte, »wie ist sie hierher gelangt? Nach Stockholm?«
Der Mann rieb sich die Augen.
»Sie wurde verletzt und durch den Tunnel aus Sarajewo auf den Berg Igman getragen. Dort sorgte sie dafür, dass sie die Genehmigung erhielt, eine Gruppe von Frauen und Kindern, die das Rote Kreuz
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