Paradies
Apparate, Holzschuhe im Korridor hinter der Tür. Dennoch war die Stille bedrückend.
»Wer hätte das geahnt?«, sagte die Mutter. »Ausgerechnet heute…«
Sie schluchzte.
»Natürlich konntest du das nicht wissen«, sagte Annika leise.
»Niemand macht dir einen Vorwurf.«
»Sie war gestern noch im Ort und hat eingekauft. Ich saß an der Kasse, sie war gesund und guter Dinge.«
Sie saßen wieder schweigend da, und die Mutter weinte.
»Wir müssen etwas finden, wo sie wohnen kann«, meinte Annika.
»Lövåsen kommt überhaupt nicht in Frage.«
»Also ich kann das nicht übernehmen!«, sagte die Mutter bestimmt und blickte auf.
»Falsche Medikation, schlechte Pflege, ich habe eine ganze Artikelreihe über die Missstände in Lövåsen geschrieben. Großmutter kommt woanders hin.«
»Das ist doch schon so lange her, heute ist dort sicher alles viel besser.«
Ihre Mutter strich sich mit einem feuchten Taschentuch übers Gesicht. Annika stand auf.
»Wir könnten eine private Lösung finden«, sagte sie.
»Aber bei mir kann sie nicht wohnen!«
Annikas Mutter hatte sich aufgerichtet und aufgehört, ihr Gesicht zu kühlen. Annika sah sie dort sitzen, asthmatisch vom vielen Rauchen, erhitzt durch den Pelz und ihre Hitzewallungen, mit dünner werdendem Haar, wachsendem Übergewicht, abwehrend und selbstverliebt. Ehe sie es recht wusste, war sie schon zu ihr gegangen und hatte sie an den Schultern gepackt.
»Benimm dich doch nicht so verdammt kindisch«, zischte sie.
»Ich meinte natürlich private Pflegealternativen. Hier geht es nicht um dich, begreifst du das nicht? Ausnahmsweise stehst nicht du im Mittelpunkt.«
Die Frau gaffte sie an, und auf ihrem Hals bildeten sich rote Flecken.
»Du bist doch…«, begann sie, stieß Annika weg und stand auf.
Die junge Frau starrte die ältere an und ahnte, dass ein Wutanfall kurz bevorstand.
»Na los«, sagte sie verbissen. »Sag, was du denkst.«
Ihre Mutter zog den Pelz über der Brust zusammen und machte ein paar Schritte auf sie zu.
»Wenn du wüsstest, wie viel Dreck ich mir wegen dir anhören musste!«, flüsterte sie. »Was meinst du denn, wie es mir in den letzten Jahren ergangen ist? All die Blicke hinter meinem Rücken!
Der ganze Klatsch! Kein Wunder, dass deine Schwester umgezogen ist, die doch immer zu dir aufgeschaut hat. Es ist kaum zu glauben, dass Leif das ausgehalten hat, er war mehrmals drauf und dran, mich zu verlassen. Das hätte dir gefallen, du hast mir keine Liebe gegönnt, du konntest Leif nie ausstehen…«
Annika wurde blass, während die Mutter um sie herumging, zur Tür zurückwich und mit einem anklagenden Finger auf sie zeigte.
»Ganz zu schweigen von Sofia!«, fuhr sie mit erhobener Stimme fort. »Sie genoss doch solchen Respekt. Haushälterin auf Harpsund, und dann muss sie ihre Tage als die Großmutter der Frau beschließen, die den Mord…«
Annika blieb die Luft weg.
»Fahr zur Hölle«, stieß sie keuchend hervor.
Ihre Mutter kam wieder auf sie zu, die Spucke spritzte nur so aus ihrem Mund.
»Du bist doch so eine tolle Journalistin, du müsstest die Wahrheit doch ertragen können!«
Plötzlich war sie wieder im Werk, bei der Koksluke, neben dem Hochofen, und sah den Körper der Katze fliegen, sah die Eisenstange dort liegen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und beugte sich zu ihren Knien herab.
»Geh«, flüsterte sie. »Geh jetzt, Mama, schnell.«
Ihre Mutter zog ein Lederetui mit Zigaretten und einem grünen Plastikfeuerzeug hervor.
»Bleib du nur hier sitzen«, sagte sie, »und denk darüber nach, was du angerichtet hast.«
Es wurde still, die Dunkelheit kompakter, Annika schnappte nach Luft. Der Schock saß wie ein Stein gleich unter ihrem Hals, sie konnte nur mit Mühe atmen.
Sie hasst mich, dachte sie. Meine Mutter hasst mich. Ich habe ihr Leben zerstört.
Eine Welle des Selbstmitleids riss sie mit und drückte sie zu Boden.
Was habe ich den Menschen nur angetan, die ich liebe? Oh, Gott, was habe ich getan?
Sofia Katarinas linke Hand tastete über das gelbe Laken.
»Barbro?«, murmelte sie.
Annika sah auf, Großmutter, oh, Großmutter, sofort war sie bei ihr, nahm ihre kalte unbewegliche, rechte Hand, unterdrückte ihre Angst und versuchte zu lächeln.
»Hallo, Großmutter. Ich bin es, Annika.«
»Barbro?«, lallte ihre Großmutter fragend und sah sie mit trübem Blick an.
Die Tränen stiegen ihr in die Augen, alles verschwamm.
»Nein, ich bin es, Annika. Barbros Tochter.«
Der Blick der alten
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