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Paradiessucher

Paradiessucher

Titel: Paradiessucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rena Dumont
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befindet. Ich bete zu Gott, dass sie nichts damit zu tun hat, dass es jemand anderen betrifft. Ich bete, dass ich kein Blut und keine Kotzspuren sehen muss.
    Endlich erreiche ich unsere Tür. Sie ist verschlossen. Das Geschrei kommt aus dem Zimmer nebenan, wo die merkwürdige Familie wohnt. Ich versuche mich zu erkundigen, was geschehen ist, bei den umstehenden Idioten. Der Vater der Familie soll ausgerastet sein. Klagelaute, Diskussionen, Kindergeheul. Jetzt kommen drei Polizeibeamte. Während sie uns Gaffer wegschicken, worum sich niemand schert, gehen zwei der Polizisten in das Zimmer. Mehrere Männerstimmen brüllen durcheinander, und ein Gerangel ist zu hören.
    Dann wird die Mutter auf einer Trage weggebracht. Sie liegt leblos da, stöhnt nur ab und zu, ihr Gesicht ist mit leichtem Verbandsstoff bedeckt, auf dem sich frische Blutflecken bilden. Ihre Kleidung ist mit Blut befleckt und dreckig, als hätte man mit ihr den Boden gewischt. Ein schauderhafter Anblick. Ein Auge von ihr kann ich sehen, es ist blutunterlaufen, geschwollen und starrt apathisch vor sich hin. Sie ist nicht wirklich da, das Auge schaut in eine andere Welt, eine, die ich nicht kenne. Vielleicht in die Welt, wo sie endlich ihre Ruhe fände.
    »Arme Frau«, sagen alle. »Ein Dreckskerl.«
    Der Vater weigert sich, aus dem Zimmer zu kommen. Die Beamten müssen ihn unter den Armen packen und wegzerren. Er versucht immer wieder, sich zu wehren, ist aber voll wie eine Haubitze, was es den Beamten deutlich leichter macht. Eine erbärmliche Katastrophe.
    Herr Smrçek nimmt ihre zwei verstörten Kinder in seine Obhut, solange die Mutter im Krankenhaus liegt. Der Vater sitzt wegen schwerer Körperverletzung in Untersuchungshaft. Keiner weiß, wo und wie lange.
    »Sie stehen unter Schock, Leni. Ihre Flucht war sehr tragisch. Frag mich nicht aus, hilf mir lieber, die Kindersachen einzupacken. Hier können die beiden nicht bleiben.«
    Ich tue, was Herr Smrçek sagt. Mehr bekomme ich aus ihm nicht heraus.

ABENTEUER IN ERDING
    Chris nimmt mich im Auto mit nach Erding. Zu seinen Verwandten. Mutter erlaubt es, Chris ist in ihren Augen vertrauenswürdig. Seriös. Stimmt ja auch.
    Erding liegt aber weiter weg, als es die Lagergesetze erlauben. Chris weiß das nicht. Die gestatteten dreißig Kilometer überschreiten wir schnell, und obwohl ich das normalerweise locker nehme, zucke ich trotzdem bei jedem vorbeifahrenden Polizeistreifenwagen zusammen, tue so, als müsste ich etwas an meinen Schuhen in Ordnung bringen, und bücke mich tief ins Innere des Wagens.
    Der Weg zum Gymnasium in Obersalzberg, das sich zwar oberhalb des Lagers befindet, aber sehr umständlich zu erreichen ist, zwingt uns, mehrere Verkehrsmittel zu kombinieren, also elendlang um die Berge herumzugurken. Wir überschreiten die Dreißig-Kilometer-Grenze täglich. Das Landratsamt hat aber für alles gesorgt. Es hat uns vorschriftsmäßig eine Extraerlaubnis besorgt. Und eine Dauerbusfahrkarte noch dazu. So was besitze ich für meinen Trip nach Erding nicht.
    Die Aufregung wächst mit jedem Kilometer, und als wir in Erding ankommen, bleibe ich erstaunt und enttäuscht zugleich im Wagen sitzen. Das soll sie sein. Die Welt meines Idols. Soll das die Welt sein, auf die ich im Asylantenlager seit Monaten warte? Wegen solch einem Spießerparadies habe ich alles aufgegeben? Ein Kaff sehe ich. Ist München oder Berlin anders? Oder genauso trostlos, nur größer?
    Die Verwandten öffnen ihre schmiedeeisernen Tore, um uns zu begrüßen. Ich betrachte diese ungeheuerliche Ordnung, die ich nie zuvor gesehen habe. Der Garten ist in geometrischer Genauigkeit geschnitten, das Haus weiß, ohne einen einzigen Vogelschiss, als wäre es gestern gestrichen worden. Die Fenster, klein und quadratisch, erinnern eher an Toilettenfenster oder Dachluken. Der Kunststoff, aus dem die Fensterrahmen angefertigt sind, löst in mir ein klaustrophobisches Erstickungsgefühl aus. Der schmale Weg, auf dem wir langsam voranschreiten, perfekt mit kunststoffartigen Steinimitaten ausgelegt, strahlt penible Sterilität aus. Falls es echte Steine sein sollten, sind sie zur Stein-Unkenntlichkeit entwürdigt. Glatt, quadratisch, abwaschbar. Kein Grashalm verunreinigt den Weg.
    Dieser Weg führt uns hinein in die kleinbürgerliche Löwenhöhle. Wie die Gänse watscheln wir hintereinander, damit auch kein Millimeter des mathematisch entworfenen Gartens beschädigt wird. Es wird unheimlich viel gesprochen, ich schweige natürlich, sie

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