Paradiessucher
Feinsten. Das Bier, der Biergeschmack, auf den ich so allergisch bin, die Kälte, die ich sonst keine Sekunde aushalten würde, das Unwohlsein im Magen, die Müdigkeit, meine schlechte Laune und selbst die Sprachbarriere, die größte Hürde von allen, nichts davon spielt in diesem Moment eine Rolle. Wir verstehen uns auch so … Ein gigantischer, internationaler Kuss findet statt.
So etwas nenne ich gesellschaftliche Integration.
Was so ein ersehnter Kuss, ein Aufeinanderpressen der Lippen, nein, vielmehr ein Aufeinanderpressen der Lippen und Austauschen von Körperflüssigkeiten, die sich in der Mundhöhle angesammelt haben, was so ein Kuss, bei dem alle Gefühle auseinanderfliegen, Unbeschreibliches auslösen kann, das ist ein Wunder. Etwas so Einfaches und auf den ersten Blick Banales wie ein Kuss kann im wahrsten Sinne des Wortes Berge versetzen.
So stehen wir eine lange Weile zusammen in der Kälte, zu dünn angezogen, und umarmen und küssen uns wie zwei zitternde Yetis.
EINE ZWISCHENBILANZ
Ich sitze auf der Treppe unseres Asylantenlagers, halte meinen Kopf in den Händen und denke darüber nach, wie es war. Ich weiß nicht mehr, wie diese Situation beendet wurde, wie wir letztendlich nach Hause kamen und was ich Lydia erzählt habe. Wahrscheinlich hat uns doch irgendjemand nach Hause gefahren. Das alles scheint so unwesentlich zu sein, dass es mir tatsächlich wie ein »Blackout« vorkommt. Ein gängiges Wort, das ich vor Kurzem bei den Deutschen gelernt habe.
Mit meiner heimlichen Hoffnung, dass Deutschland nicht auf die dumme Idee kommt, meiner Mutter und mir ausgerechnet jetzt, wo ich so glücklich bin, das Asyl zu verweigern, vergehen weitere Wochen. Die Lage ist allerdings angespannt, denn immer mehr Lagerbewohner, die zur gleichen Zeit wie wir angekommen sind, werden nach Zirndorf eingeladen. Mama und ich sind bereits den siebten Monat hier, jeden Tag könnte so eine Vorladung nach Zirndorf eintreffen. Es dauert zwar dann noch einige Wochen, bis der Bescheid über das Asyl oder eine Abschiebung oder eine Duldung erfolgt, aber unsere Tage im Sporthotel sind gezählt. Gerade jetzt würde ich am liebsten noch eine Ewigkeit hier im Lager hocken, mindestens noch ein Jahr. Das Jahr, das Chris noch in Obersalzberg vor sich hat.
Wahrscheinlich bin ich die erste Asylantin, die sich darüber freuen würde, dieses Haus niemals verlassen zu müssen. Das Gymnasium, Chris und seine Freunde, die deutsche Sprache, die ersten Kontakte mit der »neuen« Gesellschaft, das Aufeinanderprallen zweier Welten, die Gespräche über geistige und philosophische Themen, über Gott, die Liebe und die Unendlichkeit des Alls, Themen, die ich bisher nicht kannte – das alles ist so neu und wunderschön, dass ich diese Welt nicht so schnell wieder verlassen möchte. Alles Dunkle in mir wird hell.
Die Treppe im Gang des Asylantenlagers ist ein ausgezeichneter Ort zum Nachdenken.
Ist es richtig, dass Mutter und ich geflüchtet sind?
Dass ich sie gezwungen habe zu gehen?
Habe ich sie überhaupt gezwungen?
Bereuen wir es?
Was ist mit der westlichen Glitzerwelt?
Wieso stehen wir nicht täglich vor den bunten Schaufenstern und betrachten diese so lange ersehnte Welt?
Wohin ist der Zauber, der nach Fa duftete, verschwunden?
Nichts davon ist geblieben. Ein Schaufenster ist für mich uninteressant, wie all die tollen Autos, die an mir vorbeifahren, wie all die Videogeräte, Kassettenrecorder, Hi-Fi-Anlagen und Fernseher. Ein Bravo-Heft ist die Belanglosigkeit selbst. Meine Kaufsucht ist auf dem Mond gelandet. Ich will in die Gesellschaft hinein, ich möchte mitreden, ich möchte verstehen.
Mama hat Angst vor den Deutschen, sie verkriecht sich, sie lernt die Sprache nicht, hockt mit ihren Landsleuten zusammen und lamentiert über schlechte Zeiten. Sie ist so anders. All das geht mir durch den Kopf.
Aus dem Nichts ertönen Polizei- oder Krankenwagensirenen. Ich stehe auf und will zum Fenster gehen und nachsehen, was los ist. Dazu komme ich aber gar nicht, weil die Sanitäter bereits im Treppenhaus die Stockwerke hocheilen und mir den Weg versperren. Ich muss taub gewesen sein, denn erst jetzt merke ich, dass jemand im dritten Stock schreit. Hinter den Sanitätern bildet sich ein Rattenschwanz von Schaulustigen, wie immer, es ist schwierig, sich überhaupt vorwärtszubewegen.
Das Blut gefriert mir in den Adern. Das Gebrüll und Geschrei kommt aus dem Stockwerk, in dem wir wohnen, wo sich in diesem Augenblick meine Mutter
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