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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Sivas, Schlüter beschleunigte seinen Schritt, denn das Jagdfieber pochte jetzt in seinen Adern, er fühlte fast Euphorie, gar Lust am Abenteuer, entschlossen umfasste er den Völkermordstein in der Tasche und tauchte ein in das Gewirr der Gassen von Sivas.
    Es war wärmer geworden, Schlüter knöpfte seinen Mantel auf, das Viertel wimmelte nun von Menschen, die Straße gehörte den Fußgängern, in den Teestuben saßen rauchende und teetrinkende Männer. Schwarz verschleierte Frauen und junge Frauen mit offenem Haar kreuzten seinen Weg, mit Taschen auf Einkaufstour, und sogar ein Karren, auf dem ein stolzer Bursche mit federnden Knien stand und sein Pferd durch die Menschenmengen lenkte, ein Mann auf einem knatternden Moped, einen todgeweihten Truthahn vor sich gefesselt auf dem Tank.
    Schlüter überquerte eine Kreuzung, sah sich um und stellte fest, dass er sich in der Yahya Bey Cadde befand, die hier breit und an den Seiten unbefestigt war, die Bauten wichen zurück, zwischen Straße und Häusern lagen Unrat und Schutt in den aufgetauten Pfützen, dort standen Pflüge, gebrauchte Schlepper und allerlei landwirtschaftliches Gerät, und gegenüber, vor einer flachen Budenzeile, aus deren blinden Fenstern und Dächern Ofenrohre jeglichen Kalibers ragten, alte löchrige neben neuen silbernen, waren Sofas, Tische, Schränke, Stühle und Sessel ins Freie zum Verkauf gestellt. Auf einem der Sessel saß ein Mann, vielleicht der Verkäufer, der auf Kundschaft wartete, vielleicht ein müßiger Kunde. Er hatte seine Beine übereinandergeschlagen, den Kopf gebeugt über ein Glas Tee, in dem er den Zucker verrührte. Er sah auf. Der Mann war – Emin Gül.

38.
    Das Büro war nicht tot, nur weil der Chef nicht da war. Das Leben ging auch ohne den Chef weiter und doch war es ein totes Büro. Sie hielt die Routine aufrecht: um halb neun der Gang zum Gericht, das Postfach leeren. Auf dem Rückweg bei der Bank die Kontoauszüge holen, aus dem Hausbriefkasten die Post mit hochnehmen. Dann mit dem Brieföffner an den Posttisch.
    In der Gerichtspost befand sich ein dickes Paket und Angela packte die Ermittlungsakte Heyder Cengi aus. Die Staatsanwaltschaft hatte die Papiere geschickt, obwohl das Mandat beendet war. Bürokratie hat lange Wege. Angela wog die beiden dicken roten Hefter. Was sollte sie damit machen? Einfach zurückschicken wäre sicher das Beste. Aber wer weiß. Sie stellte den Kopierer an, heftete die Ordner auseinander und kopierte alles durch. Sogar die Bildbände. Man konnte sie nicht kopieren, ohne dass die Bilder ins Auge sprangen: der blutige Leichnam des Veli Adaman, aus allen Perspektiven, der zerschlagene Schädel, die klaffende Wunde, aus der Blut und Gehirn ausgetreten war, die verkrampften Hände, die noch hatten greifen wollen – das Leben, den Mörder? Angela hatte geschworen, damals bei der Strafsache von Borstel, nie wieder die Bildmappe aus der Akte von einem Gewaltverbrechen zu kopieren, aber der Chef hatte noch nicht angerufen, obwohl er schon zwei Tage fort war, und sie konnte ihn nicht fragen, hoffentlich war ihm nichts zugestoßen. Er war in den letzten Tagen sehr merkwürdig gewesen, besonders mit diesem komischen Stein, den er seinen Völkermordstein nannte. Mit dem er sogar sprach. Ihr wurde flau im Magen, sie spürte, wie ihr der Schweiß aus den Haarwurzeln trat.

    Es klingelte an der Tür. Angela betätigte den Öffner und wartete eine Minute, bis der Besucher in den dritten Stock heraufgestiegen sein würde. Dann ging sie ihm entgegen. Sie öffnete die Bürotür und vor ihr stand ein zierlicher Mann mit Haaren, die ehemals schwarz gewesen und jetzt grau durchsprenkelt waren; er hatte tiefe trockene Falten im Gesicht und einen durchdringenden Blick aus schwarzen Augen.

    Er stellte sich mit dem Namen Erich Müller vor und fragte, ob Herr Rechtsanwalt Schlüter zu sprechen sei. Als er hörte, Schlüter sei auf Dienstreise und werde nicht vor Mittwoch in der nächsten Woche zurückerwartet, ließ er sich einen Termin für Donnerstag geben, vertraute Angela einen Briefumschlag an und verabschiedete sich.
    Angela bereitete sich einen Salbeitee, setzte sich an den Posttisch und öffnete den Brief.
    Sie las:

     
    Lieth, den 17. November 1994

    Mein lieber Junge,

    diese Zeilen wirst Du lesen, wenn ich nicht mehr sein werde. Ich weiß, ich habe mich in meinem Leben nicht viel um Dich gekümmert, im Gegenteil, ich habe Dir viele Steine in den Weg gelegt und mir ist klar, dass Du um meinetwillen

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