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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Drainage spülen, das Wasser stand zwei Meter breit in den Gräben, und wenn er jetzt nicht bald damit in Gang kam, würde er die Gülle nicht rausfahren können und der Austrieb im Frühjahr würde sich verzögern. Es gab massenhaft Arbeit, nicht erledigte Arbeit. Sie glotzte Heinsohn von überall her an. Zum Beispiel dieser Haufen mit den Sägespänen für die Liegeboxen, den er seit drei Monaten fortschaffen wollte, damit er nicht mehr im Weg lag, wenn er Silo in den Boxenlaufstall fuhr. Aber er würde das schon alles irgendwie schaffen, und zwar ohne Hilfe, so wahr er hier saß.
    Dieser Kümmeltürke hatte ihn ganz schön durcheinandergebracht. Unverschämter Kerl! Verdammte Ausländer! Die Sache mit dem Mann vom Arbeitsamt spukte Heinsohn durch den Kopf, aber er schüttelte den Gedanken ab, indem er seine Pfeife ausklopfte, sich mühsam erhob.
    »Ick ward di wat, din Quiddje!«, murmelte er. »Bün ick ’n Lotterfent?« Vorbeischicken! Ausprobieren! Dem Klokschieter würde er was husten!
    Der Schmerz pulste wütend in seinem Fuß.

9.
    Am folgenden Montag, den 21. November, saß Schlüter nach dem Termin beim Arbeitsgericht in der Bibliothek des Verwaltungsgerichts, das im gleichen Gebäude untergebracht war, am Ende eines kahlen Flurs. Zuvor hatte er sich der strengen Sicherheitskontrolle der Bibliothekarin unterzogen, die seine Erklärung, er sei Rechtsanwalt Schlüter, nicht für ausreichend hielt und seinen handschriftlichen Eintrag in eine Besucherliste forderte. Widerwillig kam Schlüter der Aufforderung nach. Das Missachten überflüssiger oder falscher Regeln war seit 1945 Bürgerpflicht, aber er hatte keine Zeit für einen Disput. Auf dem Fensterbrett dudelte Musik aus einem winzigen Radio. Er durfte die Bibliothek betreten.

    Am Donnerstag der vergangenen Woche, als Kemal Kaya in seinem Grill in der Fußgängerzone die Geschichte vom Hotelbrand von Sivas erzählte, hatte Schlüter den sicheren Grund verlassen, auf dem er seine langweiligen Verkehrsunfälle, Ehescheidungen und Mietstreitigkeiten bearbeitete. Auslieferung. Asyl. Vier Buchstaben, ein Begriff, mit dem er bisher juristisch nichts hatte anfangen können. Allenfalls literarisch. Nachtasyl hieß die Geschichte von Gorki, die Schlüter in seiner russischen Phase vor Jahrzehnten gelesen hatte, sie handelte von zerlumpten Gestalten, Opfern von Bürokratie und eigensüchtigen Herren. Ein Buch aus einer Zeit, als man Gut und Böse noch auseinanderhalten konnte. Asylanten waren in der Literatur gute, aber unterdrückte und in der aktuellen politischen Nachrede böse und gierige Leute, die Deutschland überschwemmten und sein Sozialsystem ersäuften. Man musste sich ihrer erwehren und, wie es hieß, zu diesem Zwecke den Rechtsstaat ausschöpfen, bis er leer und trocken war.
    Die Toten von Sivas waren Schlüter nicht aus dem Sinn gegangen, obwohl ihm die religiösen Verwicklungen in der Türkei, einem Land, mit dem er sich bisher weder literarisch noch auf andere Weise beschäftigt hatte, herzlich gleichgültig waren. Man musste vor der eigenen Haustür kehren. In Europa waren die letzten Hexen und Ketzer verbrannt und erschlagen worden schon vor Hunderten von Jahren, und Schlüter war unfähig, die Kategorien des Herrn Kaya von Häresie, Blasphemie und Sakrileg gelten zu lassen. So man einer Religion bedurfte, folgte man der, die man für richtig hielt, und wenn es keine fertige gab, bastelte man sich aus dem westöstlichen Baukasten eine zusammen, ganz nach individuellem Bedürfnis.
    Was war es, was diese Muslime so wütend machte? Weshalb fühlten sie sich durch diese sogenannten Aleviten so provoziert, dass sie brandschatzten und mordeten?
    Mit seiner Frau hatte Schlüter die geheimnisvoll-schwülen Hinweise Kayas auf die Sittenlosigkeit von Rotköpfen herzlich belacht, bei einer guten Flasche Rotwein, auch wenn sie sich auf die Gnade ihrer westlichen Geburt nichts einbilden durften, denn der Einzelne hat selten eigenen Verdienst, steht er doch nur auf den Schultern seiner Ahnen. Christa hatte den ersten Band der Märchen aus Tausendundeiner Nacht vorgeholt und angefangen vorzulesen, aber dann war sie Haremsdame geworden, hatte Bauchtanz geübt, sie hatten noch mehr gelacht, schließlich die Kerzen gelöscht und eine Orgie gefeiert.
    Später hatte Schlüter die verstaubte fünfbändige Ausgabe Religionen der Welt von Mircea Eliade vom obersten Regal im Schlafzimmer konsultiert, bei Calvados und Espresso: Die Menschheit hatte unzählige

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