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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Schöpfungsmythen und Religionen hervorgebracht, wie konnte da jemand, der sich für geistig normal hielt und womöglich Gynäkologe von Beruf war, behaupten, gerade die eigene sei die einzig richtige, und zwar mit allen Dogmen, bis hinunter zur jungfräulichen Geburt? Das Stichwort ›Alevit‹ kam bei Eliade nicht vor, also konnte es sich um keine gewichtige Glaubensrichtung handeln.
    Jetzt durchforstete Schlüter die letzten Jahrgänge des Deutschen Verwaltungsblatts, um einen Überblick über das Recht auf Asyl und Nichtauslieferung zu bekommen.
    Alle Urteile, die er las, handelten von Kurden. Von der Verfolgung der Kurden in der Türkei hatte man gehört; Nachrichten aus einem fernen Land, die einen nicht betrafen. Schlüter las Urteile zur Frage der asylrechtlichen Relevanz von Maßnahmen staatlicher Sicherheitsorgane in den kurdischen Siedlungsgebieten. Von Bürgerkrieg war die Rede. Doch es gab viele Kriege in der Welt, da konnte man sich nicht um jeden einzelnen kümmern, zumal man selbst ein Krieger war und Paragrafenpfeile schoss.
    Vertreibung und Folter in der Türkei, lernte Schlüter, seien aber keine Verfolgung im Sinne des Asylrechts, weil es sich lediglich um einzelne unorganisierte und auch nach türkischem Recht gesetzeswidrige Übergriffe handele. Deswegen fehle den Maßnahmen, auch soweit sie von staatlichen Organen ausgeübt würden, die asylerhebliche Zielgerichtetheit. Eine sibyllinische Formulierung. Asylanträge wurden fast stets abgelehnt, Schlüter schüttelte den Kopf über den Büchern, wischte seine hineingefallenen grauen Haare fort und fragte sich, wie man eine zielgerichtete von einer nicht zielgerichteten staatlichen Verfolgung unterscheiden sollte? Und wie beweisen? Konnte man überhaupt jemanden nicht zielgerichtet verfolgen? Der japanische Zen-Bogenschütze lernte, wie man sein Wollen ausschaltete, um das Ziel desto besser zu treffen. Aber das war ja wohl nicht gemeint. Jedenfalls, so las Schlüter weiter, seien Kurden in der Westtürkei vor politischer Verfolgung hinreichend sicher. Ihnen drohen dort auch keine sonstigen existenziellen Nachteile. Kurden könnten also dorthin umziehen, sollte es ihnen im Osten zu ungemütlich werden. Inländische Fluchtalternative nannte man das im juristischen Jargon. Wer ihr Fehlen behaupte, trage dafür die volle Beweislast. Ein alter Grundsatz: Trägst du die Beweislast, verlierst du den Prozess. Die Rechtssicherheit fraß die Gerechtigkeit auf wie die Ziege das Heu. Die Gerichte produzierten Urteile und die Ziege …

    Soweit Schlüter das übersah, hatten praktisch alle Kurden ihre Prozesse verloren. Jedenfalls die friedlichen. Demgegenüber konnte ein Kurde, der Mitglied der PKK war, sich Hoffnung machen. Das Schwert war ein besserer Asylgrund als das Pflugschar.
    Schlüter blätterte in den großformatigen gelben Büchern und suchte nach Asylgründen für Türken, aber es schien keine Türken zu geben, die behaupteten, vom türkischen Staat verfolgt zu werden. Wahrscheinlich behandelte der türkische Staat seine Türken gut und Gül war die einzige Ausnahme. Oder war Gül kein Türke?
    War eine zwanzigjährige Haftstrafe für die Teilnahme an einer Demonstration staatliche Verfolgung? Die Justiz der Türkei genüge nicht den hiesigen rechtsstaatlichen Grundsätzen, betonten die deutschen Gerichte hochnäsig, fern von Selbstkritik wie immer, als wären sie nie blind gewesen auf dem rechten Auge. Aber: Reichte das aus?
    Schlüter stopfte seine Exzerpte, die sämtlich das Thema verfehlten, in die Tasche und klappte den schweren Band laut zusammen. Es klang wie ein Schuss.
    Die Bibliothekarin steckte ihren Kopf durch die Tür und fragte: »Kann ich Ihnen helfen?«
    »Nein«, seufzte Schlüter, während er seine Tasche schloss und aufstand. »Mir können Sie nicht helfen. – Aber Moment«, fuhr er nach einem tiefen Atemzug Pause fort. »Vielleicht doch. Sagen Sie: Was ist ein ›existenzieller Nachteil‹? Was meinen Sie?«
    Die Bibliothekarin öffnete die Tür ganz und füllte mit ihrem Lächeln den Raum. Sie blühte auf, denn schon lange hatte sie niemand mehr nach ihrer Meinung gefragt; Rosenduft entströmte ihrem tiefen Ausschnitt und wölkte über die Bücher in den metallenen Regalen. »Wenn Sie mich so fragen: ein Nachteil, der an die Existenz geht. Existenz – ist Leben. Der also mein Leben bedroht. Lebensgefahr also.«
    »Danke«, grinste Schlüter. »Was meinen Sie: Ist Folter, die Leib und Seele verletzt, aber den Menschen nicht

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