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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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»Bitte, Herr Gül – schildern Sie den Verlauf des 2. Juli 1993 aus Ihrer Sicht.«
    Der Dolmetscher übersetzte, Güls Jacke knarrte bedrohlich, er wandte sich dem Dolmetscher zu und begann zu sprechen.
    »Sie antworten bitte dem Gericht!«, fuhr die Beisitzerin dazwischen und mit der übersetzungsbedingten Verzögerung zwang Gül sich, sie anzusehen, während er sprach.
    Satz für Satz musste Gül das Geschehen an jenem fatalen 2. Juli 1993 wiederholen. Satz für Satz wurde übersetzt und Satz für Satz wurde protokolliert. Gül sprach mit gesenktem Kopf und tonloser Stimme. Zwei Tage nach dem Geschehen sei er verhaftet und auf die Gendarmerie von Sivas gebracht worden. Dort habe man ihm befohlen, sich nackt auszuziehen. Man habe ihn mit kaltem Wasser aus einem Wasserschlauch abgespritzt und über Glasscherben gehen lassen, bis seine Fußsohlen blutig und zerschnitten gewesen seien. Gül beugte sich zwischen seine Beine und machte Anstalten, seine Schuhe auszuziehen.
    »Lassen Sie das«, unterbrach ihn die Schildkröte und wartete, bis der Dolmetscher übersetzt hatte. »Diese Feststellungen befinden sich bereits in der Akte. Es interessiert uns eine andere Frage. Sie haben Ihren Arbeitgeber als Zeugen benannt. Wie heißt der?«
    Der Dolmetscher übersetzte. Gül antwortete.
    »Er sagt«, sagte der Dolmetscher, »er habe dies der Polizei und dem Staatsanwalt bereits mehrfach erklärt.«
    »Dann erklären Sie es uns noch einmal.«
    Gül warf Schlüter einen Hilfe suchenden Blick zu, Schlüter nickte aufmunternd und Gül sagte einen Namen.
    »Sein Arbeitgeber heißt Bulut Süzen«, erklärte der Dolmetscher.
    »Buchstabieren Sie«, verlangte die Berichterstatterin.
    Schlüter wurde unruhig. Was sollte diese Frage? Das ergab sich doch schon aus den Akten oder hatte er sich das nur gedacht? Er spürte den Impuls, den Namen des Arbeitgebers in seinen Unterlagen nachzuschlagen, aber das hätte Unsicherheit verraten, also ließ er es bleiben. Das Gefühl einer Gefahr ergriff von ihm Besitz – einer Gefahr, von der er nicht wusste, ob sie Gül oder ihm selbst galt.
    Schlüter hörte Gül sprechen und der Dolmetscher übersetzte: »Herr Gül erklärt, er könne das nicht buchstabieren.«
    »Soll das bedeuten, dass Herr Gül nicht schreiben kann? Er muss doch wissen, wie dieser Name üblicherweise geschrieben wird!«
    Der Dolmetscher übersetzte. Gül schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern.
    Die Berichterstatterin verlor plötzlich ihre Starre, äffte Gül nach, indem sie ihre Schultern ausgiebig bis zu den Ohren zog, und erklärte mit schneidender Stimme: »Erklären Sie Herrn Gül, dass wir hier nicht auf dem Hühnerhof sind. Er soll sich das Flügelschlagen sparen und die Frage des Gerichts beantworten: Ja oder nein.« Das Schläfrigschildkrötenhafte war aus ihrem Blick gewichen, sie starrte Gül aus Raubvogelaugen an.
    »Er sagt: ›Ich bin nur drei Jahre in der Schule gewesen, das meiste habe ich vergessen und deshalb kann ich nicht lesen und nicht schreiben.‹«
    »So, so«, stellte die Berichterstatterin fest und diktierte der Protokollantin: »Der Verfolgte erklärt: ›Ich kann nicht lesen und nicht schreiben, deshalb weiß ich nicht, wie der Name des Zeugen geschrieben wird.‹«
    »Wie schreibt man den Namen üblicherweise?«, fragte die Berichterstatterin den Dolmetscher. Der buchstabierte.
    Dann fragte die Berichterstatterin Gül: »Und wie hieß der Arbeitskollege, den Sie als Zeugen benannt haben?«
    Der Dolmetscher übersetzte, Gül senkte den Kopf, und als er ihn wieder hob, antwortete er nur kurz. »Er sagt: ›Ich habe ihn vergessen‹«, übersetzte der Dolmetscher.
    »Wie können Sie einen so wichtigen Namen vergessen?«, zerschnitt die Stimme der Berichterstatterin die sekundenlange Ruhe im Saal. »Den Namen eines Mannes, durch dessen Vernehmung Sie im letzten Jahr in dem ersten Prozess eine zwanzigjährige Haftstrafe vermieden haben und der Ihnen jetzt helfen kann, in Deutschland in Freiheit zu leben?!«

    Der Dolmetscher übersetzte und Schlüter dachte fieberhaft darüber nach, warum Gül die Namen der beiden Zeugen plötzlich nicht mehr wusste, die er in den türkischen Verfahren zu seiner Verteidigung benannt hatte.
    »Vielleicht kann ich …«
    »Sie habe ich nicht gefragt, Herr Rechtsanwalt«, mähte die Berichterstatterin seinen Satz ab, bevor er hatte wachsen können. »Bitte – Herr Gül!« Sie hatte eine scharfe Sense und die war frisch gedengelt.
    Gül sah Schlüter wieder

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