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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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Junge.
    In ihrer Verwirrung und Empörung zitterte ihr Mund unkontrolliert, während Kristóf sie dumpf und ungerührt anblickte, offensichtlich ohne etwas von ihrem Bedürfnis zu begreifen.
    Der Blick war aber so unschuldig, dass Frau Erna durchaus annehmen durfte, er habe sich bloß versprochen und würde brav und vernünftig seinen irren Satz zurücknehmen, so dass alles wieder ins Lot kam. Kristóf aber beherrschte sich nicht mehr, er wandte ihnen einfach den Rücken zu und begann, als wäre es in diesem Moment das Natürlichste, wieder aus dem Fenster zu starren. Aber auch Frau Erna benahm sich nicht weniger unberechenbar. Ihr gut entwickelter Realitätssinn hatte sie darauf trainiert, nichts zu tun, das eine sowieso schon schwierige Situation noch schwieriger gemacht hätte. So kam sie, das unverständliche und störende Phänomen außer Acht lassend, zielgerichtet zur Sache, löschte gewissermaßen das Durcheinander aus ihrem Bewusstsein. Als sagte sie sich, alles was mich verwirren könnte, gibt es nicht, hat es nie gegeben.
    Gyöngyvér, du arbeitest ja heute nicht.
    Nein, heute nicht.
    Dann kannst du mich vielleicht begleiten.
    Ich selbst wollte es gerade vorschlagen, antwortete Gyöngyvér atemlos, obwohl sie von sich aus niemals gewagt hätte, einen solchen Vorschlag zu machen. Sie waren noch nie gemeinsam irgendwohin gegangen.
    Ich ziehe mich gleich an.
    Und Ilona soll sich bitte zusammennehmen. Zum Weinen ist es sowieso noch zu früh. Rufen Sie ein Taxi, ich hab’s schon einmal gesagt, und holen Sie das Kostüm. Und legen Sie den kurzen Persianer bereit.
    Draußen hatten Regen und Wind für einen Augenblick aufgehört, aber es wurde so dunkel, als käme schon die Dämmerung. Inzwischen waren die Polizisten verschwunden, und der leere Einsatzwagen drehte, als sei er auf einer Spazierfahrt, langsam eine Runde um den großen Platz. Er machte bei der Einmündung der Andrássy-Allee halt, genau da, wo die Russen im November sechsundfünfzig ihre Geschütze aufgestellt und das Kaffeehaus Abbázia beschossen hatten. Inzwischen war das Kaffeehaus wieder eröffnet worden. In der Wohnung schlug eine Tür zu, vielleicht die des Badezimmers, Schränke knarrten, die beiden Frauen liefen aufgeregt hin und her.
    Ein paar Minuten später hielt ein Taxi vor dem Haus, ein grauer Pobeda. Es musste ziemlich lange warten.
    Gyöngyvér kleidete sich rasch an und wartete unruhig im Flur auf Frau Erna, die ebenfalls schnell in ihre Kleider geschlüpft war, doch einige Zeit zum Schminken brauchte.
    Der Hauswart hatte in diesem Moment bis zum Dachboden noch immer ein halbes Stockwerk vor sich.
    Als seien einmal drei Stockwerke zu Fuß nicht genug, Sakrament noch mal, jetzt muss es gleich zweimal sein, und dann auch noch dieses halbe. Der Teufel soll’s doch holen.
    Er keuchte ein wenig, stieß dann den Schlüssel ins Schloss, kaum hatte er ihn gedreht, warf ihm der Windstoß, der durch das löcherige Dach heulte, die schwere eiserne Tür entgegen. Sie öffnete sich quietschend, knallte gleich wieder zu, der Wind drückte sie nicht nur auf, sondern saugte sie gleich wieder zurück. Der Hauswart schwankte, konnte nirgendhin zurücktreten, der Wind stieß ihm die Tür wieder entgegen, er klammerte sich ans Geländer. Der Anblick, der sich vor ihm auftat, war niederschmetternd. Dass viele Ziegel fehlten, mochte noch angehen, aber sie fehlten an Stellen, die er ohne Leiter oder Gerüst nicht erreichen konnte. Durch die Lücken brach der Himmel herein. In dem vom einfallenden Licht aufgerissenen Dunkel des Dachbodenraums flatterten im entfesselten Luftzug merkwürdige Lumpen oder Lederlappen. Auch hier herrschte Ordnung, keinerlei überflüssiger Kram, völlige Sauberkeit. Um die Lücken zu decken, hatte er Ziegel genug. Sie waren achtzig Jahre zuvor von den Dachdeckern zurückgelassen worden, in Reih und Glied zwischen zwei Kaminen, noch immer der eiserne Vorrat. Er musste sich so rasch wie möglich ans Werk machen, durch die Öffnungen kam ja nicht nur Licht, sondern auch Regen.
    Er hatte hinter sich die Eisentür vergebens zugezogen, der Wind drückte sie wieder auf. Er sah sich nach einem kleinen flachen Gegenstand um, der als Keil dienen mochte, dann schloss er sie einfach hinter sich ab, wie meistens.
    Dieses Mistzeug da sollte ich auch schon längst abnehmen, brummte er und machte sich auf in Richtung Straßenfront. Vom längsten Querbalken hingen dicht nebeneinander diese Lumpen oder Lederlappen, fünf an der Zahl und alle

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