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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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Krankheit und Gesundheit gibt es tatsächlich keine Grenzen, keinen Trennungsstrich, lieber Herr Madzar, da können Sie noch so spotten.
    Warum sollte ich.
    Schon die Klassiker der Psychologie haben eingesehen, dass man höchstens von Abstufungen reden kann. Eine schöne konventionelle Vorstellung, dass es zwischen den Menschen Grenzen gibt, oder auch in einem Menschen drin. Der Einzelne hat konstante Eigenschaften, aber der Mensch an sich ist ungehindert einsehbar, so wie auch die Eigenschaften formbar sind, je nach Situation ein anderes Gesicht zeigen, was bedeutet, dass sie uns verschiedene Fähigkeiten anbieten. Wieso wäre der Mensch sonst so anpassungsfähig. Ich erkenne gern an, dass das Fehlen von Grenzen oder Begrenztheit schwer zu formulieren, schwer zu fassen ist. Die Sprache arbeitet mit Gegenüberstellungen. Wenn ich Schwarz sage, habe ich Weiß bereits dazugedacht, nicht aber die wunderschönen Abstufungen von Grau. Wenn Sie von Wahnsinn reden oder von seelischer Krankheit, ist gleich der mörderische Gemeinplatz mit allen seinen Widersprüchen da, das Schema, die vernichtende sprachliche Konvention, und Sie merken gar nicht, dass Sie ein kulturell vorgegebenes Urteil über sich und andere gefällt haben. Mit dem Begriff grenzen Sie sich gegen das archaische Gemeinsame ab, von dem niemand loskommt. Man verdeckt seine kollektiven Eigenschaften mit dem Schema, der Konvention. Sie werden mir verzeihen, dass ich Sie so gewöhnlicher Vergehen anklage.
    Im Urwald können Sie ja auch keinen Pfahl einstecken und sagen, bis hierher meins, von da an deins, denn nach dem nächsten Regen wachsen die Pflanzen alles zu.
    Natürlich stehen Sie mit diesem Irrtum nicht allein da.
    Vergessen Sie auch nicht, dass das Fehlen einer Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit nicht negativ zu verstehen ist, sondern positiv.
    Ich ahne eher nur, was Sie meinen.
    Ich wollte Sie nur beruhigen, dass Sie weder defensiv noch offensiv zu sein brauchen, wenn Sie so denken, das Fehlen von Krankheit ist ja Gesundheit.
    Dann verstehe ich aber wirklich nicht.
    Wenn ich mich richtig erinnere, haben Sie den Tonio Kröger gelesen, Herr Madzar.
    Ich könnte nicht sagen, dass es mir leichtfiel.
    Na sehen Sie, dann werden Sie gleich wissen, was ich meine.
    Darüber lachten beide laut.
    In diesem seltsamen Augenblick ging Gyöngyvér auf, wozu ihr nackter, fröstelnder Körper da war.
    Sie braucht noch nicht durchs Badezimmer zu verschwinden, das ist noch nicht Frau Szemző, nicht der Lift. Sie hört zwar Rufe, aber in Wirklichkeit herrscht auf der Straße, im Treppenhaus, überall tiefe Stille. Sie hört Stimmen, die sie nicht kennt, und also gibt es die nicht. Ich habe vor Müdigkeit Halluzinationen. Mit diesem Wort beruhigte sie sich, obwohl sie gerade vor dem deskriptiven Begriff hätte zurückschrecken müssen. Sie verstand nicht, wo Frau Szemző so lange blieb. Was trieb die mit ihren Freundinnen in frühster Morgenfrühe. Jemand müsste die anzeigen, da würden sie auffliegen, dann wäre es aus mit dem Wegbleiben, und Gyöngyvérs Wohnungsprobleme wären gelöst. Aber wie sehr sie sich auch fürchtete, in Anklagen und Hass schwelgte, das elende kleine Fis musste noch einmal versucht werden. Jetzt wusste sie, wohin damit. In der Gesangsstunde gelang es nur per Zufall, da hatte das verdammte Médilein wieder einmal recht, die weiß ja alles zum Voraus, jetzt aber platzierte sie es bewusst.
    Hob es aus dem ungezügelten Hass heraus.
    Ich bin ein klingender Raum, dachte sie triumphierend und liebte zärtlich ihren straffen, nackten Körper in der frösteligen Haut. Ich bringe die Töne des Hasses mit, dachte sie triumphierend.
    Die lebendige Seele der vernichteten Gegenstände fand ihre Stimme in ihr.
    Als sagte sie, ich bin keine Person, keine bloße Struktur, ich warte vergeblich, dass mich lebendige Menschen ansprechen oder zum Sprechen bringen.
    Ihre ganze elende Kindheit war davon bestimmt gewesen, dass sie nicht sprechen konnte. Angesichts anderer Menschen blieb ihr das Wort vor Angst und Staunen in der Kehle stecken. Ich muss diejenige sein, die den bedrückenden Raum anspricht.
    Madzar hatte Möbel als Skulpturen angesehen, vor allem Stühle. Er folgte darin Rietveld, für den der Mensch, der sich auf einem Stuhl niederlässt, die dramatische Beziehung zwischen seinem Körpergefühl und seinem Ort im Raum erfährt. Darüber hatte er viel nachgedacht, und Frau Szemzős Erläuterungen und Widersprüche erregten ihn ungemein. Der Stuhl

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