Parallelum - Der dunkle Beobachter (German Edition)
seit Stunden im Bett. Francesco hat mich angerufen. Er könne heute nicht vorbeikommen, da ein weiteres Opfer gefunden worden sei und er noch Zeugen befragen müsse. Wie er erzählt, handelt es sich diesmal nicht um eine junge Frau, sondern einen älteren Mann. Die Todesursache und die Gegebenheiten waren jedoch dieselben wie bei den anderen Opfern. Ich habe mir schon gedacht, dass etwas passiert sein muss, als ich eine weitere Gabe erhalten habe. Marco nennt sie Gedankenhören. Diese Gabe erhielten viele, doch er habe noch nie so starke Auswirkungen dieser Gabe gesehen. Er meint, es könne auch daran liegen, dass ich durch den Schlafmangel so geschwächt sei.
Auch Alberto hat sich heute bei mir gemeldet und mir eine Nachricht geschickt. Er will sich mit mir treffen und schreibt, es sei sehr wichtig. Ich habe noch nicht darauf geantwortet. Es hat bestimmt mit dem Vorfall in seiner Praxis zu tun. Was soll ich ihm dazu noch sagen?
Die Sonne ist schon untergegangen, und Dunkelheit breitet sich langsam im Zimmer aus. Es klopft an meiner Tür.
»Eva, darf ich reinkommen?«, fragt Marco.
»Klar«, antworte ich und setze mich auf.
»Wie fühlst du dich?«
»Schon besser. Ich hatte den ganzen Tag keinen Anfall mehr.«
Marco setzt sich neben mich aufs Bett.
»Du hast nicht geschlafen, das ist schlecht«, stellt er fest.
»Ja, aber ich habe mich ausgeruht und bin morgen sicher bereit für das Training«, versichere ich ihm.
Er schüttelt nur den Kopf und widerspricht: »Nein, das bist du nicht.«
»Doch, mir geht’s gut, glaub mir.« Er presst seine Lippen zusammen und schüttelt wieder den Kopf. »Leg dich hierhin«, sagt er dann und klopft auf seinen Schoß.
Ich sehe ihn skeptisch an.
»Vertraue mir. Mach dich ganz locker!«, fordert er mit sanfter Stimme.
Ich zögere, doch dann lege ich mich auf seinen Schoß. Es fühlt sich eigenartig an. Er legt seine kalten Hände an meinen Kopf, dabei zucke ich ein wenig zusammen. Dann beginnt er, mit seinen Fingerspitzen meine Schläfen zu massieren.
»Du hast in den letzten Tagen viel erlebt. Du musst viel verarbeiten und brauchst den Schlaf«, flüstert er beruhigend. »Besonders neue Wächter brauchen das, da sie sonst mit ihren Gaben überfordert sind. Das, was heute geschehen ist, darf nicht mehr passieren. Du warst der Gabe ausgeliefert. Du musst deine innere Ruhe finden, dann wirst du auch die Gaben einfacher beherrschen können.«
Anfangs habe ich mich unwohl gefühlt, doch langsam entspanne ich mich. Seine kühlen Fingerspitzen sind sehr angenehm an meinen glühend heißen Schläfen. Ich schließe meine Augen und atme gleichmäßig ein und aus. So versuche ich, alle meine Gedanken zu verdrängen und an nichts zu denken, doch das gelingt mir nicht.
»Du denkst zu viel darüber nach, an nichts zu denken«, sagt er lächelnd.
»Tut mir leid, aber das kann ich nicht«, antworte ich und will mich aufrichten, doch er drückt mich wieder hinunter und legt seine Finger – genau wie zuvor – auf meine Schläfen.
»Du musst nicht an rein gar nichts denken. Aber beschränke dich auf nur einen Gedanken. Lass nur einen zu, und verdränge die anderen einfach«, leitet er mich an.
Ich versuche es, doch woran soll ich denken? Dann sehe ich Marco an. Er ist so anders, als ich gedacht habe.
»Vor zwei Tagen dachte ich noch, du wärest der Serienmörder und ich dein nächstes Opfer«, erzähle ich Marco mit leiser Stimme.
Er hört auf, meine Schläfen zu massieren, und zeigt mir sein verschmitztes Lächeln. »Ich habe mich ja nicht so galant verhalten. Was denkst du jetzt über mich?«
»Dass du ein sehr netter Typ bist und dass ich froh darüber bin, dass du die Regeln nicht beachtet hast«, antworte ich ehrlich. Ich setze mich auf und rücke zu ihm, und er beobachtet jede meiner Bewegungen penibel genau.
»Was wird jetzt geschehen? Wirst du bestraft?«, frage ich neugierig.
Er hebt die Schultern. »Ich bin, ehrlich gesagt, überrascht, noch keine Strafe erhalten zu haben.«
»Der Rat verhängt die Strafe, richtig? Was wird das für eine Strafe sein?«
»Die Strafe ist immer dieselbe, egal, gegen welche Regel verstoßen wird. Wenn sich ein Begleiter nicht an die Regeln hält, wird er ins Parallelum verbannt, und seine Erinnerungen werden ihm genommen«, erzählt Marco mit bedrückter Stimme. »Aber ich habe das einzig Richtige getan. Ich bereue es nicht, denn hätte ich darauf gewartet, dass du all deine Gaben erhältst, wärest du der Organisation in die
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