Paranoia - Hoer Auf Ihre Stimme
richtig? Michael Tolan?«
Sein Ärger war bereits der diffusen Melancholie eines Angetrunkenen gewichen. »Im Moment weiß ich gar nicht genau, wer ich eigentlich bin.«
Die junge Frau lächelte, schüttelte ihm die Hand und nannte ihren Namen. Die Berührung mit ihrer warmen Haut ließ Tolan leicht erschauern.
»Ich bin von Ihrem Buch begeistert«, sagte sie. »Es ist meine neue Bibel.«
Ihm fiel keine passende Antwort ein. Was immer er sagte, würde nur halb verständlich klingen, da war er sich sicher.
Dann fragte sie, ob sie ihn zum Essen einladen dürfe.
Es gab Dutzende Erklärungen für sein Verhalten. Er konnte es auf seine Eheprobleme schieben oder auf den plötzlichen Ruhm, er konnte sich auch auf irgendeinen psychologischen Spleen berufen. Oder seine neu gewonnene Erkenntnis zitieren, dass seine Frau ebenfalls kein Engel war – doch warum? Nichts ließ sich damit entschuldigen.
Nur drei Tage, nachdem Abby und er diesen wundervollen Nachmittag bei der alten Klinik verbracht hatten, entdeckte er, wozu er fähig war. Und das gefiel ihm gar nicht.
Er nahm mit der jungen Frau im Restaurant des Hotels ein spätes Abendessen ein. Tolan ließ nicht zu, dass sie die Rechnung bezahlte. Sie tranken noch einen letzten Drink an der Bar und verabschiedeten sich kurz nach Mitternacht. Tolan gab vor, Schlaf zu brauchen. In Wahrheit wollte er nicht länger in ihrer Nähe sein. Die Versuchung war einfach zu groß – und er im Moment sehr schwach.
Doch dann konnte er nicht schlafen. Tat einfach kein Auge zu. Stattdessen plünderte er die Minibar, um den Alkoholspiegel aufrechtzuerhalten. Er wusste, dass er am nächsten Morgen dafür würde büßen müssen. Verkatert und mit einer Alkoholfahne würde er bei Paramount erscheinen.
Doch es war ihm gleichgültig. Er saß auf der Bettkante, sah sich schlechte Late-Night-Comedians an, die schlechte Witze machten, und bemitleidete sich mit jedem Fläschchen, das er trank, ein wenig mehr.
Sie mochte es abstreiten, doch er war sich sicher, dass Abby ihn betrogen hatte. Mit wem, wusste er nicht, aber in ihrer Handtasche hatte er einen Beweis gefunden. Einen Beweis, der ziemlich schwer zu widerlegen war.
Tolan trank ein Fläschchen nach dem anderen. Nur noch verschwommen erkannte er die Ziffern der Uhr am Fernseher – 2:48.
Plötzlich klopfte es an der Tür.
Er brauchte ein Weilchen, um sich aufzurappeln. Als er öffnete, stand dort seine neueste glühende Verehrerin, bekleidet mit einem Bademantel des Hotels. Einem sehr kurzen Bademantel. Und die Beine, die darunter zum Vorschein kamen, waren glatt, gebräunt und wohlgeformt.
»Meine Dusche ist kaputt«, sagte sie. »Was dagegen, wenn ich Ihre benutze?«
Im Nachhinein, hier in seinem Büro, erinnerte sich Tolan wieder sehr deutlich an das Rauschen der Dusche. Er hatte in der Nähe des Bettes gestanden und gehört, wie sein Mobiltelefon klingelte, kaum zehn Minuten, nachdem die Frau an seine Tür geklopft hatte. Schließlich war er ans Telefon gegangen. Schuldgefühle hatten ihn in immer neuen Wellen überspült, und er hatte sich gefühlt wie ein Kind, das man in der Badewanne beim Masturbieren erwischt hat. Nicht gerade einer seiner besten Momente.
Der Anrufer, ein Detective vom Morddezernat namens Rossbach, hatte ihm die schlimme Nachricht übermittelt.
Und nun, getrieben von der Erinnerung und der wachsenden Sorge, diese zu verlieren, zog Tolan einen Schlüssel aus der Hosentasche und schloss die unterste Schublade seines Schreibtisches auf. Er nahm einen braunen Umschlag heraus, öffnete ihn und schüttete den Inhalt auf den Schreibtisch.
Abby war bei ihnen für Fotos zuständig gewesen, sie verdiente ihren Lebensunterhalt damit, doch er selbst hatte auch ein paar Schnappschüsse gemacht. Die meisten lagen nun vor ihm und warteten darauf, in ein Album geklebt zu werden, von dem er wusste, dass er es niemals kaufen würde.
Seit Lisa mehrmals pro Woche bei ihm übernachtete, hatte er die Fotos mit ins Büro genommen. Er wollte nicht noch mehr zu dem Schmerz beitragen, den er ihr ohnehin schon bereitete, auch wenn sie sich große Mühe gab, ihn zu verbergen. Sie hatte Geduld mit ihm gehabt und still gelitten, während er trauerte, doch manchmal sah er es in ihren Augen: Die Angst, wegen eines Phantoms für immer nur die zweite Geige zu spielen. Wegen einer Erinnerung. Und er sah die stumme Frage, ob sich daran jemals etwas ändern würde.
Es war klar, dass er ihr diese Frage noch nicht beantworten konnte.
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