Paranoia - Hoer Auf Ihre Stimme
»Ich habe nicht viel übrig für Psychotherapie.«
»Das geht den meisten Menschen so. Doch anscheinend belastet Sie etwas, und es auszuleben, ist nicht der richtige Weg.«
»Vielen Dank für die Zwei-Sekunden-Analyse, Doktor, aber wir wollen das Ganze doch nicht unnötig verkomplizieren. Beantworten Sie einfach meine Frage.«
Tolan war verwirrt. Er wusste nicht, was der Anrufer meinte. Plötzlich fiel es ihm ein. »Wegen des Computers?«
»Sie haben also zugehört.«
Tolan seufzte. »Also gut, ich habe einen. Einen Laptop, hier direkt vor mir.«
»Mit Internetverbindung?«
»Ja.« Wo sollte das hinführen?
»Geben Sie in Ihrer bevorzugten Suchmaschine den Namen Han van Meegeren ein.«
Tolan stutzte. »Wen?«
»Han van Meegeren«, wiederholte der Anrufer und buchstabierte den Namen. »Na los, ich warte.«
Tolan überlegte, ob er einfach wieder auflegen sollte, doch seine Neugier war geweckt. Nach kurzem Zögern klappte er den Laptop auf. Mit einem Knopfdruck schaltete er von Standby auf Betriebsmodus, wartete, bis seine Wireless-Verbindung stand, ging auf die Google-Startseite, gab den Namen ein und drückte die Enter-Taste.
In der wohlbekannten blauen Schrift erschien eine Liste mit Dutzenden von Websites. Tolan überflog die Kurzbeschreibungen der Sites und stellte fest, dass es bei fast allen um Kunstfälschungen ging. Offensichtlich war van Meegeren ein berüchtigter Vertreter dieser Zunft.
»Sie sehen«, sagte der Anrufer, »der gute, alte Han war wohl ein Fälscher. Wenn Sie etwas tiefer graben, werden Sie herausfinden, dass die niederländischen Behörden ihn einmal wegen Kollaboration mit den Nazis verhaftet haben. Sie konnten ein Gemälde aus der Sammlung von Hermann Göring zu ihm zurückverfolgen und drohten ihm mit einer Anklage wegen Hochverrats.«
»Na, so ein Pech«, sagte Tolan, und ihm schoss erneut durch den Kopf, dass er dringend Schlaf benötigte. »Was hat das mit mir zu tun?«
»Abwarten«, sagte der Anrufer. »Ihr Umgang mit einem Kranken lässt einiges zu wünschen übrig.«
»Ich habe einen anstrengenden Vormittag hinter mir. Also kommen Sie zur Sache, wenn es überhaupt eine gibt.«
»Oh, die gibt es. Eine, die Sie sicher interessieren wird. Doch zunächst zurück zu van Meegeren. Das fragliche Bild war angeblich von Johannes Vermeer, aus dem 17. Jahrhundert, doch es stellte sich heraus, dass van Meegeren selbst es gemalt hatte. Er war ein Fälscher, kein Verräter.«
»Das scheint hier wohl generell das Thema zu sein, aber noch einmal – was hat das mit mir zu tun?«
»Ich glaube, das wissen Sie bereits, Doktor. Wollen wir uns auf eine andere Website begeben?«
Allmählich wurde es lächerlich. Er hatte schon viel zu lange mitgespielt.
Als hätte der Anrufer sein Zögern bemerkt, sagte er: »Keine Sorge, wir sind gleich fertig. Gewähren Sie mir noch einen Augenblick. Wenn die nächste Website Ihre Neugier nicht befriedigt, legen Sie einfach auf.«
Er spielte mit Tolan, er hatte ihn sicher am Haken. Tolan wartete auf die Adresse der Website und tippte sie ein.
»Sie sollten wissen, dass es sich hier um eine einmalige URL handelt«, sagte der Anrufer. »Ich habe Sie über einen anonymen Server eingerichtet, der sich nicht zurückverfolgen lässt.«
»Was für eine Adresse ist das?«
»Das können Sie mit nur einem Tastendruck herausfinden.«
Stimmt, dachte er und drückte die Enter-Taste. Was er einen Augenblick später auf dem Bildschirm sah, ließ ihn unwillkürlich aus seinem Stuhl hochfahren und von dem Computer zurückweichen. Er warf das Handy auf den Schreibtisch, als sei es verseucht.
»Dr. Tolan?«
Er starrte auf den Bildschirm.
Fotos. Mindestens ein Dutzend. Aber nicht solche wie die von Abby, die er sich gerade noch angesehen hatte.
Jedes der Fotos zeigte einen brutal zerstückelten Körper. Das Messer eines Killers hatte sich eine Schneise durch Fleisch und Knochen gebahnt, Gliedmaßen abgetrennt, verunstaltet und Lachen geronnenen Blutes hinterlassen. Die Körperteile waren neu arrangiert, als Mosaik eines Geisteskranken. Ein kubistischer Alptraum.
Tolan fragte sich, ob es sich um Tatortfotos handelte und ob sich der Anrufer auf irgendeine Weise Zugang zu Beweismitteln verschafft hatte. Ein derartiger Fund konnte Phantasien ausgelöst und zum Entstehen dieser Website geführt haben. Doch abgesehen vom Gegenstand der Fotos zeigten die Bilder eine künstlerische Qualität, ein Gespür für Form und Gestalt, die ein Polizeifotograf sicher nicht an
Weitere Kostenlose Bücher