Paranoia - Hoer Auf Ihre Stimme
wollte, dann … fragte sich nur noch, wo und wann.
Tolan starrte auf den Link auf seinem Bildschirm. Abby Tolan. Er musste wieder an die Nacht denken, in der die Polizei ihn angerufen hatte. Die rauschende Dusche, unter der eine nackte Fremde auf ihn wartete. Die Scham, die ihm in sämtliche Knochen fuhr, als sein Mobiltelefon klingelte.
Du. Du hast mich verletzt.
Man hatte ihn nie gebeten, die Leiche zu identifizieren. Zu schlimm war sie zugerichtet. Es war ein so brutaler Mord gewesen, so zerstörerisch, dass Abbys Identität anhand von zahnärztlichen Unterlagen bestätigt werden musste. Man hatte sie in der Dunkelkammer ihres Studios gefunden, ihren Körper zerstückelt und durch Fotochemikalien verätzt.
Auch die Tatortfotos hatte Tolan nie zu Gesicht bekommen. Hatte es nicht gewollt. Doch als Vincent ihn auf diesen Link aufmerksam machte und ihm klar wurde, dass er ihn direkt zum Horrorszenario in Abbys Dunkelkammer führen würde, musste Tolan zugeben, dass er in Versuchung geriet, sie sich anzusehen.
Einzig und allein Willenskraft hielt ihn davon ab, den Link anzuklicken.
Ein erneutes kurzes Klopfen schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Die Tür wurde geöffnet, und Lisa steckte den Kopf herein. Hastig klappte Tolan den Laptop zu.
»Du bist schon den halben Vormittag hier drin«, sagte sie. »Einige deiner Patienten werden langsam unruhig. Besonders Bobby Fremont.«
»Bobby ist immer unruhig. In seiner Nähe musst du wirklich vorsichtig sein.«
»Er wird mir nichts tun. Ich bin die einzige Freundin, die er hier hat. Er will wissen, warum du die Gruppensitzung abgesagt hast.«
»Was hast du ihm erzählt?«
»Dass du es bei der Sitzung heute Nachmittag selbst erklärst.«
Tolan nickte. »Vorausgesetzt, sie findet statt.«
Lisa sah ihn fragend an. »Was ist los, Michael?«
»Innerhalb der nächsten Stunde kommt Detective Blackburn. Kannst du dafür sorgen, dass er ohne großes Theater reingelassen wird?«
Lisa schloss die Tür. »Verdammt noch mal, Michael, hör endlich auf, meinen Fragen auszuweichen!«
»Ich weiche gar keinen –«
»Seit ich meine Schicht begonnen habe, benimmst du dich eigenartig. Hängt das mit dieser neuen Patientin zusammen?«
»Du hast sie gesehen?«
»Nein, ich hatte keine Zeit. Sollte ich?«
Tolan schüttelte den Kopf. »Es hat ohnehin nichts mit ihr zu tun.«
»Womit dann?«
Er wusste nicht genau, warum er es Lisa nicht sagen wollte. Von Vincents früherem Anruf hatte er nichts erzählt, weil er sie schützen wollte. Sie sollte sich keine Sorgen machen. Doch mittlerweile erschien ihm diese Ausrede albern. Schließlich war sie erwachsen. Sie war Oberschwester einer renommierten psychiatrischen Abteilung und nahm mehr Anteil an seinem Leben, als er überhaupt verdiente. Wenn hier jemand der Beschützer war, dann sie.
Doch irgendetwas hielt ihn immer noch davon ab, ihr von den Vorkommnissen zu erzählen. Die Anrufe, Jane X Nummer 314 – alles, was an diesem Vormittag geschehen war. Im Moment war Lisa der einzige Lichtblick in seinem Leben, er wollte einfach nicht, dass an diesem klaren Himmel Wolken aufzogen.
»Es ist nichts«, sagte er. »Ich stehe bloß ein bisschen neben mir. Habe ein paar verrückte Anrufe bekommen.«
»Verrückte Anrufe? Von wem? Was hat der Anrufer gesagt?«
»Nichts, worüber du dir Sorgen zu machen brauchst.«
Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich, und Tolan wusste, dass er genau das Falsche gesagt hatte. Aber er konnte sich nicht zurückhalten. »Wahrscheinlich war es irgendein ehemaliger Patient, der mich ärgern will. Ist wirklich keine große Sache.«
Wie versteinert sah sie ihn an. »Keine große Sache, aha.«
»Sogar noch weniger als das, einfach nur lästig«, gab er zurück, merkte jedoch, dass sie ihm das nicht abkaufte. »Dann bin ich wohl auch nur lästig, oder?«
»Ach was, Lisa, das ist doch nicht fair.«
»Fair? Ich will nur, dass du offen zu mir bist, Michael.«
Sie hatte recht. Hätte an ihrer Stelle jetzt Abby dort gestanden, hätte er sofort die Wahrheit gesagt. Aber er hatte immer noch das Gefühl, das Unvermeidliche hinauszögern zu müssen.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Beim Essen erzähle ich dir alles. Versprochen.«
Einen Moment lang blieb sie schweigend stehen, dann öffnete sie die Tür. Doch bevor sie den Raum verließ, hielt sie noch einmal inne. »Sag mir eins, Michael, liebst du mich? Ich meine, bedeute ich dir wirklich etwas?«
Herrje, dachte Tolan. Jetzt nicht auch noch so etwas. »Du
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