Paranoia
Höhepunkt längst überschritten hat. Typisches Beispiel.
Wolfgang scheint meine Musterung zu bemerken und sieht zu mir rüber. Ich vollführe ein kleines freundschaftliches Zwinkern mit beiden Augen. Er sieht mich überrascht an, reagiert aber nicht. Schaut wieder zu Steve, der seine Idee darlegt. Ja, Steve wird’s mal weit bringen. Sehr gut, sehr kreativ. Ich nicke. Jemand fügt etwas hinzu, einen Sekundenbruchteil später beginnen alle zu überlegen, entwerfen erste Ideen. Ein lautloser Wettlauf intensiven Brainstormings beginnt. Ein paar verziehen das Gesicht zu einer Grimasse. Einer nimmt die Brille ab, seine Miene ist ausdruckslos. Jeder hat seine eigene Art nachzudenken. Ich zwinge mich, ernst zu bleiben. Lasse meine Crew mal machen, behalte meine Lösungsbeiträge jedoch noch für mich, obwohl ich schon weiß, wie wir’s schlussendlich angehen werden. Ich will ihnen die Spannung nicht verderben.
Wie nebenbei betaste ich meinen im Rückzug befindlichen Pickel. Er ist nicht mehr infektiös. Die Zeit, ihn auszudrücken, ist abgelaufen. Jetzt habe ich einen geröteten Huckel an der Schläfe. Wohin verschwindet ein Eiterpickel, wenn man ihn nicht ausdrückt? Rücklauf ins Blut? Ekelhafte Vorstellung. Ich sehe momentan aus wie das letzte Einhorn, dem das Horn auf die Schläfe gerutscht ist.
Alle um mich rum sind noch in Gedanken vertieft.
Von einer plötzlichen Welle des Kummers überwältigt, höre ich plötzlich wieder Christians Pubertätsorgan, sein markantes, gerolltes R. Unablässig in meinem Kopf:
Wir sind den ganzen Nachmittag draußen,
wenn du’s dir doch anders überlegst, komm einfach nach.
Und ich kriege die Krise.
Komm einfach nach.
Ich bin ganz Ohr. Mir wird schwindelig. Mein Gehirn fühlt sich an wie die reinste Rumpelkammer. Christian. Die anderen. Ich bitte um Absolution. Unbemerkt von allen. Keine Augenzeugen. Niemand sieht’s.
»Was denkst du, Conrad?« Steves Stimme dringt zu mir vor. Ich konzentriere mich. Das rettende Ufer ist nur ein paar Meter entfernt. So schnell wie möglich wate ich durch den Morast meiner Erinnerung zurück in die Realität.
»Find ich gut. So machen wir’s!«, sage ich hastig, als hätte ich mir gerade selbst eine Lektion in Sachen Reaktionsfreudigkeit erteilt. Wir sind durch. Ich teile die Mannschaften ein, versehe jeden einzelnen meiner Höflinge noch mit einem anweisenden Kurzkommentar, erhalte nickende Zustimmung, sehe auf meine Uhr, und in dem Moment stehen auch schon alle auf und kramen ihre Unterlagen zusammen. Ich gebe die Uhrzeit für unser heutiges Abschlussmeeting bekannt. Alle wieder hier, um 18 Uhr.
Mein Stuhl quietscht beim Zurückschieben.
Wir diskutieren in kleinerem Kreis noch fünf endlose Minuten über einige strategische Fragen, und ich mache – ganz kollegial und offen – ein paar Vorschläge. Alle nicken und geben mir recht.
Es ist furchtbar, ich würde am liebsten meine Meinung ändern, sobald ich das Gefühl habe, jemand stimmt mir zu.
Ich gehe zurück in mein Büro im Untergeschoß. Ich möchte kurz allein sein. Ich vertrage Menschenkontakt nur eine bestimmte Zeit, muss mich im Anschluss regenerieren.
Die Firmenmitarbeiter Marischkas, denen ich auf dem Gang begegne, beäugen mich verunsichert und misstrauisch. Bin ich gewöhnt, ist immer so. Der Consulter, der Feind im eigenen Haus.
Tür zu.
Es ist fast halb zwölf.
27
Zwölf Stunden später beende ich auch diesen, meinen siebten Arbeitstag. Ich schlucke zwei Beruhigungstabletten und lege mich ins Bett, voller Erschöpfung und überdreht. In die Decke bis zu den Augen eingemummt. Der sich anbahnende Rechtsstreit geht mir durch den Sinn. Keine Hoffnung auf Schlaf.
Ich ziehe mich noch mal an und verlasse mein Zimmer.
Fahre mit dem Lift ins zweite Tiefgeschoß des Hotels. Betrete den hauseigenen Nachtclub.
Ohrenbetäubend druckvoll stampft ein monotoner Technobeat Takt für Takt voran. Giftgrünes Stroboskoplicht-Geflacker auf der Tanzfläche. Lässt die Szenerie aussehen wie einen Film aus schnell aufeinanderfolgenden Standbildern. Zu sehen sind ekstatisch verzogene Gesichter in einem Meer aus Menschen. Auf den Mienen des wogenden Pulks zeichnen sich Drogenrausch, Hingabe, Wut, Verzückung, Kapitulation, Leere und Exzentrik ab. Sie recken ihre Fäuste nach oben, gehen auf den irrsinnig lauten Sound des dunkel bebrillten DJs ein.
An diesem Abend lerne ich eine Deutsche kennen. Neunzehn. Brünett. Glänzendes Gesicht. Etwas weich. Ich sitze abseits, in einem nur
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