Parasiten
sanfter Bestimmtheit aus dem Zimmer: »Sie müssen jetzt tapfer
und vernünftig sein, junger Mann. Setzen Sie sich vorne in den Aufenthaltsraum,
ich bringe Ihnen gleich einen gesüßten Tee, der wird Ihnen guttun. Dann
besprechen wir alles. Oder Sie gehen nach Hause, legen sich hin und kommen
morgen wieder. Ich kümmere mich um alles, seien Sie ganz beruhigt.«
Danylo nickte und nickte, obwohl er überhaupt nicht zuzuhören
schien. Die Oberschwester sah Christian auffordernd an. Gemeinsam brachten sie
Danylo zum Aufenthaltsraum. Er ließ sich führen wie ein Schlafwandler.
Christian und Danylo setzten sich hin, die Schwester ging Tee holen. Christian
wartete ein wenig, doch dann hielt er es nicht mehr aus: »Danylo, darf ich Sie
so nennen?«
Danylo zuckte gleichgültig mit den Schultern.
»Sofia Suworow ist kürzlich in Moldawien verschwunden, ebenso wie
ihre Schwester Alina.«
»Ich weiß. Ich habe mit Ileana telefoniert.« Danylos Stimme klang
tonlos.
Christian beugte sich vor. »Das ist jetzt kein guter Zeitpunkt, aber
ich muss einige Dinge wissen, um Sofia und Alina helfen zu können. Warum ist
Henning Petersen getötet worden? Was hat das alles mit Ihnen und Sofia Suworow
zu tun? Es gibt doch einen Zusammenhang, oder?«
Danylo gab keine Antwort. Langsam verlor Christian die Geduld. Er
rüttelte Danylo sanft an der Schulter: »Hören Sie mir überhaupt zu?«
Danylo reagierte plötzlich und heftig. Er sprang vom Stuhl auf und
schrie Christian an: »Was fällt Ihnen ein? Mein Vater ist gerade gestorben!
Wissen Sie, warum?«
»Ein Schlaganfall, sagte man mir.«
»Dieser Schlaganfall war eine Komplikation der Endokarditis.
Entzündung der Herzinnenhaut, falls es Sie interessiert. Aufgrund eines
angeborenen Herzfehlers war mein Vater mit einem sehr hohen Endokarditis-Risiko
behaftet. Das kann man bekommen durch eine winzigkleine Entzündung. In der
Mundhöhle zum Beispiel. Weil einem ein paar Zähne ausgeschlagen werden. Von
irgendwelchen Typen in Moldawien, wo Sie ihn hingeschleppt haben!«
Christian sah Danylo fassungslos an: »Wollen Sie etwa mir die Schuld
am Tod Ihres Vaters geben? Ich habe ihn weder gezwungen, nach Moldawien zu
fliegen, noch habe ich ihn gebeten, dort zu bleiben und den falschen Leuten
falsche Fragen zu stellen!«
Genauso schnell wie Danylo aufgebraust war, brach er wieder in sich
zusammen. Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht. »Nein, Sie sind nicht
schuld. Ich bin schuld. Ich allein. An Hennings Tod, am Tod meines Vaters, am
Schicksal von Alina und Sofia vielleicht auch …«
»Jetzt sagen Sie mir verdammt noch mal, was passiert ist!«
Nun schrie Danylo wieder: »Damit Radu auch noch totgeschlagen wird?
Oder Ileana? Was wollen Sie tun? Sie haben doch gar keine Ahnung!«
»Wenn immer alle die Fresse halten, wird das auch so bleiben. Und
dann kann ich wirklich nichts tun, begreifen Sie das endlich, junger Mann!«
Christian war nun auch wütend.
Mit strengem Blick kam die Oberschwester herein. »Meine Herren, ich
bitte Sie, das hier ist ein Krankenhaus!«
»Schon gut«, beruhigte Christian die Oberschwester.
Auch Danylo nickte ihr zu. »Ich geh mal kurz pissen«, sagte er zu
Christian.
Nach drei Minuten schwante Christian, dass er sich wie ein idiotischer
Anfänger verhielt. Nach weiteren fünf Minuten hektischer Suche hatte er sich
vergewissert, dass Danylo nicht kurz pissen war. Er war weg.
19. April 2010
Hamburg.
Walter Ramsauer war seit über vierundzwanzig Stunden zurück
in Hamburg. Er hatte kaum geschlafen, sondern so gut wie durchgearbeitet. Das
Material von Henning war sortiert und um seine eigenen ersten Recherchen
ergänzt worden. Vielleicht steckte sogar noch mehr in der Story, als er bisher
ahnte. Gegen Mittag hatte seine Mutter das Telefon bei Elfriede im ›Hirschen‹
benutzt und ihn angerufen. Er hatte gehofft, dass Merle dabei wäre, doch sie
wollte nicht mit ihm sprechen. Er verschob das Problem, zuerst galt es, sich
auf die vor ihm liegende Aufgabe zu konzentrieren. Wenn diese Story sein
Comeback sein sollte, möglicherweise beim Spiegel oder beim Stern, dann musste
er sauber und wasserdicht arbeiten. Er vergaß keineswegs, dass Henning –
vermutlich wegen dieser Geschichte – sein Leben gelassen hatte. Es war
gefährlich. Brandheiß und gefährlich. Genau der Stoff, der Journalistenherzen
bis zum Hals schlagen lässt. Normalerweise hätte er sich mindestens drei, vier
Wochen Zeit für die Recherche gegeben. Aber er wusste nicht, ob Henning
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