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Paravion

Paravion

Titel: Paravion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: bouazza
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bestieg die Straßenbahn Richtung Ostteil der Stadt. Sie zupfte an ihrer Halskette mit dem Davidstern herum, was sie immer tat, wenn sie nervös war, das heißt, wenn es höchste Zeit für Nachschub war. Der Waggon war fast leer, und die Lichter verliehen allem eine Atmosphäre des Unheils und der Verlassenheit wie im langen, leeren Flur eines Bürogebäudes oder einer Anstalt. Sie machte sich Sorgen um ihre Tochter, irgend etwas stimmte nicht, sie wußte nicht was, und Mamette wollte es ihr nicht sagen. Sie hatte es an ihren Augen gesehen und an der kindlichen Gereiztheit, als ob sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen wollte. Was war es nur?
    Die Straßenbahn fuhr durch Straßen, in denen Menschen und Lichter noch quicklebendig waren, und durch verarmte Viertel, in denen eine fahle Finsternis herrschte, die schon ein paar Tage alt zu sein schien, eine Art Second-hand-Finsternis. Wie im nahegelegenen Park, der so schmutzig und so dunkelgrün war, daß keiner der vielen Regen in Paravion ihn reinwaschen konnte. Bei der Kreuzung stieg sie aus und ging einen Häuserblock bis zur Kneipe, die, das Schicksal sei gepriesen, direkt gegenüber ihrem Haus lag. Schon von weitem entdeckte sie den Teppichhändler vor ihrer Haustür. Der will sicher seinen Teppich holen, dachte sie. Die Ausrede war inzwischen zum Synonym für Sex geworden: den Teppich holen. Dabei hätten sie es angesichts seines hinderlichen Gewands besser
    »den Teppich klopfen« nennen sollen.
    Sie rief ihn, gab ihm mit Zeichen zu verstehen, daß er ihr in die Kneipe folgen solle. Er winkte nur, sie ließ ihn stehen und öffnete die Kneipentür, durch die eingesperrter, rauchiger Lärm entwischte. Drinnen war es voll und gemütlich. Man begrüßte sie jovial, und der Barmann stellte ihr gleich einen Schnaps auf die Theke, die schwitzte vor verschüttetem Alkohol und reflektierendem Licht. Ihr Getränk zitterte wie ihre Finger, sie hatten einander vermißt. Sie kippte den Schnaps hinunter, und schon stand ein zweites flüssiges Monokel für sie bereit.
    Sie war bei ihrem neunten Glas, als der Teppichhändler hereinkam. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie widerlich er diesen verrauchten und nach Alkohol stinkenden Ort eigentlich fand. Die ganze Kneipe mit den dunkelroten Teppichen, braunen Wänden und den alten Postern ekelte ihn an. Denn hier hingen wie in allen anderen Kneipen Toulouse-Lautrec-Poster an den Wänden, außerdem die vier Jahreszeiten von Mucha, diverse Kabarett- und Theaterplakate und natürlich vergilbte Fotos aus den Kindertagen der Kneipe.
    »Hallo!« rief es im Chor. »Da ist ja unser kleiner Mohr!
    Komm und trink eine Limonade!«
    Er grinste ein schiefes, gelbes Lächeln, während sein Herz fluchte, als wäre es in der Hölle gelandet. Ein Ort der Verderbnis, wie konnte er ihn je betreten? Stickig war es hier und heiß, die Gäste schwitzten hoffnungslos. Wolkenschwaden aus Rauch, manche noch von gestern, hingen unter der vergilbten Decke. Man schlug ihm auf die Schulter, fester, als man im betrunkenen Zustand glaubte zu tun, und zerrte ihn zur Bar. Der Wirt nickte ihm zu und stellte eine Flasche Limonade vor ihn hin. »Strohhalm oder Glas?« fragte er, und die ganze Kneipe schüttete sich aus vor Lachen.
    »Komm, sag mal was in unserer Sprache. Sag mal ›Polizei‹
    oder ›putzen‹. Na komm schon, alter Junge, tu’s.«
    Er nickte und grinste feige und zog Marijken am Ellbogen.
    »Trink erst mal deine Limonade«, sagte sie, »ich bin noch nicht fertig.« Sie rülpste und hickste derweil. Die Brille rutschte ihr von der Nase, und sie starrte in vernebelte Weiten, die Schultern hingen traurig herab. Ihre Hände zitterten nicht mehr, und die schlampig blondierte Dauerwelle machte ihrem Namen keine Ehre mehr. Ihr Blick war so glasig wie der Schnaps, den sie trank. »Du willst sicher wieder deinen Teppich holen, nicht wahr?« Er trank in einem Zug seine Limonade aus, rülpste und spürte die Kohlensäure angenehm in seiner Nase kitzeln.
    Als sie von ihrem Barhocker zu rutschen drohte, stützte er sie und zog sie Richtung Tür.
    »Na, soll ich’s wieder anschreiben?« fragte der Barmann, der gerade ein Glas abtrocknete. Im Spiegel hinter ihm klemmten zahlreiche Postkarten, die meisten mit einem obszönen Motiv, und fremdländische Geldscheine wie Herbstlaub. Strohblumen schmückten den Rand des Spiegels, der alles verzerrt wiedergab, als wäre auch sein Blick trunken. In ihm spiegelten sich sogar die rosafarbenen Elefanten und die schwarzen

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