Paris ist eine Messe wert
war, denn in diesen Zeiten dachte jeder nur an sich. Und auf meine Antwort, daß ich gut versehen sei, beglückwünschte er mich zu meiner Weitsicht und umarmte mich fest zum Abschied, wobei ihm plötzlich Tränen aus den Augen rollten, was seinem traurigen Aussehen doch einmal entsprach.
Um mir die fiebrigen Augen und die schmachtende Anmut meiner Patientin aus dem Sinn zu vertreiben, sortierte ich, als ich heimkam, was ich von ihrem Mann gehört hatte, manches mir Bekannte und manches Neue. Worauf ich zu dem Schluß kam, daß Frau von Nemours wahrscheinlich am besten geeignet war, mir einen Paß bei ihrem Sohn zu erwirken, weil sie die Hoffnung nährte, ihn mit Navarras Schwester zu vermählen, und sich daher in der Liga nicht so hervortat wie die Montpensier.
|209| Dennoch blieb ebendiese der große Stolperstein, an dem ich mit meiner Absicht und mit meinem Leben scheitern konnte. Denn wie sollte ich mich Frau von Nemours nähern, ohne daß die Montpensier es erfuhr? Und weil sie andere Pläne hegte als ihre Mutter, weil sie erbitterte Ligistin war und Mayenne auf dem angeblich leeren Thron sehen wollte, war es nicht ausgeschlossen, daß sie versuchen würde, die Pläne Frau von Nemours’ zu durchkreuzen und den Mittler zwischen ihrer Mutter und dem König aus dem Weg zu räumen.
Ich sagte mir also, daß der Moment, die Maske zu lüften, für mich noch verfrüht war und daß ich besser wartete, bis die Hinkefuß mit der Länge der Belagerung sich des Sieges der Ihren nicht mehr so sicher wäre und eher geneigt, den König zu schonen. In diesem Gedanken wurde ich bestärkt, als Borderel mir zwei Wochen später eine Neuigkeit mitteilte, die mich verblüffte: Die Montpensier hatte drei Viertel ihrer Bediensteten entlassen und gab den verbleibenden statt Fleisch und Suppe nur noch ein Pfund Brot am Tag, weil sie nicht beizeiten vorgesorgt hatte, ein so törichtes Vertrauen hatte sie in die rasche Hilfe ihres Bruders und des Herzogs von Parma gesetzt.
»Nun, das kommt mir gelegen«, sagte ich im stillen Kabinett zu Miroul. »Wenn die Montpensier selbst Hunger leidet und ich ihr Lebensmittel bringe, wird sie die Hand nicht abhacken, die sie ernährt. Es heißt, hungernder Bauch hat keine Ohren. Ich denke das Gegenteil.«
»Trotzdem«, sagte Miroul, »ich kann mir nicht denken, daß die Hinkefuß wirklich hungert. Die Großen stecken doch alle unter einer Decke.«
»Ha, Miroul«, sagte ich, »glaub ja nicht, daß die Großen besser wären als die Kleinen. Ich brauche mich nur all des Entsetzlichen zu erinnern, das Ambroise Paré über die Belagerung von Metz berichtet hat. Hunger denkt nur an sich und macht den Menschen zur Bestie.«
Eine Woche darauf erfuhr ich von Pierre de L’Etoile, daß der Vogt der Kaufmannschaft und die Schöffen am 26. Mai eine Generalerhebung des vorrätigen Getreides und der Einwohnerzahl gemacht und herausgefunden hatten, es gebe in der Stadt zweihundertzwanzigtausend Einwohner und genug Weizen, sie einen Monat lang zu ernähren. Was den Hafer anging, der an Stelle von Weizen verwendet werden konnte, so gab es davon |210| nur fünfzehnhundert Mud 1 , und das war sehr wenig. Dieser höchst beunruhigende Bericht hatte geheim bleiben sollen, doch sickerte er durch bis zu Pierre de L’Etoile, dessen große Ohren überall auf der Lauer lagen. Und als er ihn mir wiedergab, hatten wir schon den 15. Juni, und ich schickte Poussevent aus, allen Weizen aufzukaufen, den er finden könnte. Er fand tatsächlich welchen, kehrte aber mit leeren Händen und ganz verstört zurück und sagte, man habe ihm ein Mud zu vier Ecus den Sester angeboten, und lieber verhungere er, als einen solchen Preis zu zahlen.
»Schafskopf«, sagte ich, »wenn du den Preis nicht zahlst, verhungerst du bestimmt und wir mit dir.«
Damit schickte ich ihn umgehend zurück zu dem Händler, doch diesmal begleitet von Miroul und Pissebœuf, und ich tat gut daran, denn auf dem Rückweg rieselten durch eine Naht des Sacks, den Poussevent schleppte, ein paar Körner aufs Pflaster, und ein halbes Dutzend armer Hungerleider stürzte sich auf sie mit Klauen und Zähnen, um ihnen die kostbare Last zu entreißen. Was den Hungergeschwächten gegen meine kräftigen Leute nicht gelang, doch gebot ich ihnen, von Stund an immer zu dritt zum Einkaufen auszugehen, und zwar gleich bei Tagesanbruch und mit Stöcken bewaffnet.
Am 20. Juni kaufte ich ein Mud Weizen für diesmal sechs Ecus den Sester und fügte ihn dem Vorrat hinzu, den ich
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