Partitur des Todes
anderen, die man uns bisher so vor die Nase gesetzt hat.»
Ihr letzter regulärer Chef war Hans-Jürgen Herrmann gewesen. Er war vom Dienst suspendiert worden, nachdem er in Verdacht geraten war, im Fall einer ermordeten Frau Beweismittel unterschlagen und die Ermittlungen behindert zu haben. Das Verfahren gegen ihn hatte sich lange hingezogen. Schließlich hatte man ihn vor einiger Zeit aus dem Polizeidienst entlassen.Alle waren zufrieden mit dieser Entscheidung, jedes andere Ergebnis wäre nicht zu rechtfertigen gewesen. Herrmanns Posten war seit seiner Suspendierung nur übergangsweise besetzt worden.
«Und wie findest du… Charlotte?», fragte Marthaler.
Liebmann schaute kurz zu ihm rüber, dann lächelte er. «Meinst du… als Frau?»
«Nein… ja, ich weiß nicht. Ich will einfach wissen, was duvon ihr hältst.»
Liebmann zuckte mit den Schultern und schnaufte.Aucher hatte offensichtlich Mühe, sich ein Urteil zu bilden. «Ehrlich gesagt, finde ich sie ziemlich witzig. Jedenfalls für eine Polizistin. Und…»
«Und was?»
«Und ziemlich charmant.»
Wieder warf Liebmann einen Blick in Marthalers Richtung, als wolle er überprüfen, wie seine Worte auf den Kollegen wirkten.
«Ja», sagte Marthaler, «charmant ist wohl der richtigeAusdruck.»
Dann bat er Liebmann, ihn an der Mörfelder Landstraße rauszulassen. Er wollte die letzten Meter zu Fuß laufen. Als er gerade die Haustür geöffnet hatte, hielt Marthaler inne. Er hatte ein Geräusch gehört, das hinter ihm aus der Dunkelheit kam. Er wandte sich um, konnte aberniemanden sehen. Vielleicht hatte er sich getäuscht. Von unten näherte sich ein Auto, fuhr am Haus vorbei und verschwand hinter der Kurve am oberen Ende der Straße. Wieder war alles ruhig.
Dann hörte er das Geräusch von neuem. Ein Rascheln. Vielleicht ein Tier, das sich unter den Büschen des Vorgartens zu schaffen machte.
Aber da war noch etwas anderes. Eine Art Schnaufen, als ob ein Mensch schwer atmete.
Marthaler klemmte die Fußmatte zwischen Tür und Rahmen, dann betrat er die Rasenfläche, um nachzuschauen. Zwischen den Sträuchern lag jemand auf dem Boden. Ein Mann, der offensichtlich hier geschlafen hatte und jetzt im Begriff war aufzuwachen. Sein Kopf lag auf einer gefüllten Plastiktüte.
«Ist alles in Ordnung?», fragte Marthaler. «Kann ich Ihnen helfen?»
Schwerfällig drehte der Mann seinen Kopf in Marthalers Richtung. Sein Gesicht war in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Er trug einen dichten Bart, und die langen Haare hingen ihm in die Augen.
Marthaler beugte sich zu ihm hinunter, fuhr aber im selbenAugenblick zurück. Von dem Mann ging ein unerträglicher Gestank aus. Er roch nach Urin, nachAlkohol, nach Schweiß und Erbrochenem. Ein Obdachloser, dachte Marthaler, ein betrunkener Stadtstreicher, der hier sein Nachtlager aufgeschlagen hat.
«Soll ich Hilfe holen?», fragte er noch einmal.
Mühsam erhob sich der Mann. Er kehrte Marthaler den Rücken zu. Er nahm seine Plastiktüte und brummte etwas Unverständliches.Dann zog er schwankend davon. Marthaler schaute dem Mann nach, bis er in der Dunkelheit verschwunden war. Er ging die Treppe hinauf, dann betrater leise die Wohnung.Alles war dunkel. Er nahm an, dass Tereza bereits schlief. Sie hatte am Nachmittag einen Arzt-Termin gehabt, wollte danach aber nochmal ins Städel, um weiter an den Vorbereitungen für ihre nächsteAusstellung zu arbeiten. Wahrscheinlich war sie spät nach Hause gekommen und gleich darauf ins Bett gegangen.
Marthaler ging ins Wohnzimmer, holte ein Glas aus dem Schrank und öffnete eine Flasche Rotwein. Er setzte sich in seinen Sessel.
Er nahm die Rundschau und blätterte sie durch. In einer Kleinstadt in Brandenburg war ein Baby an einer Bushaltestelle zurückgelassen worden. In Bielefeld hatten drei Jugendliche einen Behinderten überfallen und ihn mit seinem Rollstuhl in einen Teich gestoßen. In der Pfalz war ein sechsundsiebzigjähriger Rentner bewusstlos am Straßenrand in seinemAuto aufgefunden worden; er hatte mehr als fünf Promille Alkohol im Blut. Und in der Nähe von Paris war das Manuskript einer verloren geglaubten Operette des Komponisten Jacques Offenbach gefunden worden.
Marthaler faltete die Zeitung zusammen. Er trank sein Glas aus, dann ging er ins Bad.Als er ins Schlafzimmer kam, sah er, dass Tereza nicht da war. Er schaute auf die Uhr; es war fast halb zwölf.
Es hatte einige Zeit gebraucht, bis er Tereza überzeugt hatte, bei ihm einzuziehen. Und noch einmal so
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