Partitur des Todes
Ermittlern auf Schritt und Tritt zu folgen.
«Bevor ich Ihnen mitteile, was passiert ist, möchte ich Sie um Verständnis bitten, dass ich noch nicht viel sagen kann. Wir stehen erst ganz amAnfang.Aber ich verspreche Ihnen, wir werden Sie umgehend informieren, wenn wir mehr wissen.»
Eine ältere Reporterin, die für die Deutsche Presse Agentur arbeitete und in seiner Nähe stand, wandte sich an einen jüngeren Kollegen: «Was ist denn mit dem los, hat der Kreide gefressen?»
Marthaler beschloss, die Bemerkung zu überhören. Sein Verhältnis zu den Journalisten galt als gespannt.Alle wussten das. Dennoch war fast immer er es, mit dem sie reden wollten.
«Auf dem kleinen Boot dort unten hat vergangene Nacht ein Verbrechen stattgefunden», sagte er.
«Das wissen wir», rief eine Männerstimme aus der zweiten Reihe.
Marthaler ließ sich nicht irritieren. «Es hat fünf Tote gegeben», fuhr er fort.
«Das wissen wir auch», sagte dieselbe Stimme.
«Alle fünf Opfer wurden erschossen.»
«Nun mal Butter bei die Fische!», rief der Mann.
Marthaler schwieg. Er wandte sich von der Menge ab. Für einen Moment sah es so aus, als wolle er seine Erklärung damit beenden. Schließlich waren es die Journalisten selbst, die ihren Kollegen zur Ruhe brachten. Marthaler grinste in sich hinein.
«Gut… ich sehe, das Eigeninteresse überwiegt. Über die Identität der Toten können wir noch keineAngaben machen.Auch das Motiv ist bislang unklar. Eine Tatwaffe wurde noch nicht gefunden. Das ist alles, was ich Ihnen bis jetzt sagen kann.»
Direkt vor ihm stand eine junge Frau mit dünnem, blondem Haar. Sie hatte einen Block und einen Stift in der Hand. Ihre Stimme war leise. Sie schaute Marthaler nicht an, als sie ihre Frage stellte: «Stimmt es, dass es so aussieht, als habe man die fünf Leute hingerichtet?», fragte sie.
Für drei Sekunden war Marthaler sprachlos. «Wer sagt so etwas?», fragte er barsch.
Sofort merkte er, dass seine Reaktion verräterisch gewesen war. Vielleicht war es das, was die Journalisten an ihm mochten, dass er nicht unverbindlich bleiben konnte, dass er sich leicht aus der Reserve locken ließ. Nur so hatten sie etwas zu berichten, nur so bekamen sie ihre Bilder.
«Also stimmt es?», wisperte die Frau. Sie hatte Marthaler für einen kurzen Augenblick angeschaut. Er hatte bemerkt, dass sie schielte.
«Ich habe gefragt, wer eine solche Information verbreitet hat.»
Jetzt meldete sich die dpa-Reporterin zu Wort: «Nun kommen Sie, hier wimmelt es von Polizisten und Sanitätern, da spricht sich so etwas herum. Sagen Sie einfach ja oder nein.»
Die Frau hatte recht. Es gab keine Möglichkeit mehr, dieses Detail unter Verschluss zu halten.
«Ja», sagte er, «es ist ein Verbrechen, das mit äußerster Brutalität und Kaltblütigkeit ausgeführt wurde. Die fünf Opfer wurden aus nächster Nähe erschossen. Man muss davon ausgehen, dass jeder Schuss tödlich sein sollte. Wer auch immer das getan hat: Er wollte, dass diese fünf Menschen sterben. Das Wort Hinrichtung ist in diesem Zusammenhang allerdings Unfug.»
Wieder kam eine Frage aus der Gruppe der Journalisten. «Was ist mit dem Wirt von Sultans Imbiss? Ist er unter den Opfern?»
«Dazu kann ich im Moment noch nichts sagen. Sie müssen Geduld haben. Es wird ganz sicher noch heute eine Pressekonferenz geben.»
«Wann? Um wie viel Uhr?»
«Auf jeden Fall haben Sie alle noch Zeit, ausführlich zu frühstücken», sagte Marthaler.
Dann ging er ohne ein weiteres Wort zum Wagen, wo Sven Liebmann auf ihn wartete.
Eine Viertelstunde später hatten sie dieAdresse gefunden, unter der Erkan Önal gemeldet war. Sie befand sich in einem Häusergeviert in der oberen Burgstraße. Beide Zufahrten zu dem Innenhof waren durch eine Schranke versperrt. Sven Liebmann parkte den Wagen vor einem Geschäft, in dem neue und gebrauchte Musikinstrumente angeboten wurden.
Hinter einem unansehnlichen Siedlungsblock stand eineAnlage alter Mietshäuser aus rotem Backstein. Manchmal, wenn Marthalernach Feierabend auf die Berger Straße zum Einkaufen ging, nahm er den kleinen Umweg durch diesen Hof. Hier wohnten viele Familien, die irgendwann aus der Türkei oder aus Italien nach Frankfurt gekommen waren. Fast immer sah man Wäsche auf den Leinen, dazwischen Kinder, die unter den hohen Platanen im Sandkasten spielten oder auf ihren Rollern über den Parkplatz fuhren.Aus den offenen Fenstern hörte man das Geklapper von Geschirr, die fremde Musik und die Stimmen der
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