Partitur des Todes
ihn mit unbewegter Miene an: «Was soll die Frage?»
«Geben Sie mir bitte eine Antwort!»
«Sie meinen, weil wir Türken sind, müssen wir entweder arm sein oder reiche Teppichhändler.»
«Der Wagen ist fast neu und war bestimmt nicht billig.»
«Wir haben dasAuto gekauft, um Erkans Großmutter aus der Türkei holen zu können. Wir haben einen Kredit aufgenommen, den wir abbezahlen. So, wie es alle anderen auch machen. Erkan ist fleißig.»
«Ist Ihr Mann bedroht worden?Kann es sein, dass man versucht hat, Schutzgeld von ihm zu erpressen?»
«Nein.Das hätte ich gemerkt.Aber…»
«Aber was?»
«Sie haben vorhin gefragt, ob Erkan gestern am Telefon anders war als sonst…»
«Und?»
«Er hat etwas gesagt. Er hat erzählt, dass draußen ein Mann auf einer Bank sitzt. Ein komischer Typ, hat er gesagt, der schon seit Stunden dort sitzt.»
Marthaler und Liebmann wechselten einen raschen Blick.
«Hat er den Mann gekannt, hat er ihn beschrieben? Hat er vielleicht mit dem Mann gesprochen? Versuchen Sie bitte, sich zu erinnern.»
Frau Önal überlegte. Dann schüttelte sie den Kopf. «Nein, das ist alles. Mehr weiß ich nicht.»
Plötzlich wurde die Großmutter in ihrem Sessel unruhig. Sie zeigte auf den Bildschirm. Dann sagte sie aufgeregt ein paar türkische Worte. Marthaler meinte, mehrmals das Wort Erkan zu verstehen.
Dann sahen sie, was die alte Frau aufgeschreckt hatte. Im Fernsehen lief eine Nachrichtensendung; es wurden Bilder von Sultans Imbiss gezeigt. Man sah die Polizeiwagen und die Fahrzeuge der Rettungsmannschaften.
Erkan Önals Frau war aufgesprungen und hatte den Ton wieder eingeschaltet. Im selben Moment hörte man Marthalers Stimme, wieer den Journalisten erzählte, dass auf dem Boot fünf Tote gefunden worden waren.
Die junge Frau begann zu schreien. Ihr Blick wechselte hastig zwischen dem Fernsehbild und den beiden Polizisten in ihrem Wohnzimmer hin und her.
«Sagen Sie mir, was passiert ist», schrie sie. «Was ist mit Erkan? Wieso sagen Sie mir nicht die Wahrheit?»
Marthaler war aufgestanden und ging einen Schritt auf sie zu. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen. Sie schüttelte ihn ab. «Lassen Sie mich in Ruhe», fauchte sie ihn an. «Sagen Sie mir die Wahrheit.»
«Bitte,Frau Önal, wir sagen die Wahrheit. Wir wissen nicht, was mit Ihrem Mann ist.Aber auf dem Boot istein Verbrechen geschehen. Und Ihr Mann ist verschwunden. Wir müssen ihn finden.»
«Dann finden Sie ihn!», sagte sie mit leiser Stimme. Sie hatte sich in den Sessel fallen lassen. Sie weinte. «Finden Sie ihn, bitte!»
«Haben Sie eine Ahnung, wo er sein könnte? Kann es sein, dass er bei Freunden ist?»
Die Frau reagierte nicht. Sie hatte dieAugen niedergeschlagen und schluchzte stumm vor sich hin.
«Wenn er sich meldet, geben Sie uns bitte sofort Bescheid. Haben Sie mich verstanden?»
Aber jetzt gab Sven Liebmann seinem Kollegen ein Zeichen. Es hatte keinen Zweck, weiter auf die Frau einzureden. Sie mussten sie alleine lassen.Alleine mitder Großmutter und den beiden Neugeborenen.
«Mist», sagte Marthaler, als siewieder auf dem Hof standen, «wir haben etwas vergessen. Wir brauchen ein Foto von Erkan Önal.Für den Fall, dass wir ihn zur Fahndung ausschreiben müssen.»
Liebmann fasste in die Innentasche seines Jacketts, zog etwas daraus hervor und hielt es Marthaler hin. Es war ein Porträtfoto des Mannes, den sie suchten.
«Was ist das? Du hast doch nicht etwa…?»
«Es lag auf dem Tisch», sagte Liebmann. «Als die Oma uns den Kaffee gebracht hat, ist es zu Boden gefallen. Ich habe es aufgehoben… und, na ja…»
Neun
Auf derAdickesallee bogen sie rechts ab und fuhren in die Polizeimeister-Kaspar-Straße, die erst wenige Jahre zuvor diesen Namen erhalten hatte.
«Der hat sich auch nicht immer an die Vorschriften gehalten», sagte Sven Liebmann und zeigte mit dem Kopf auf das Straßenschild.
«Was meinst du?», fragte Marthaler.
«Otto Kaspar, ein Kollege, der während der Nazi-Zeit einigen Frankfurter Juden das Leben gerettet hat. Kennst du die Geschichte nicht?»
Marthaler erinnerte sich, etwas darüber gelesen zu haben, hatte es aber wieder vergessen.
«Die Polizei musste damals die Einträge in den Einwohnerlisten durchforsten, um auch jene Juden ausfindig zu machen, die nichtMitglied der Jüdischen Gemeinde waren. Otto Kaspar stieß auf den Namen der Familie Senger aus der Kaiserhofstraße. Er hat den Eintrag im Melderegister gefälscht und so verhindert,
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