Partitur des Todes
Kollegen in Paris Kontakt aufnehmen und hören, was aus den Ermittlungen geworden ist. Vielleicht lohnt es sich, der Sache nochmal nachzugehen. Jedenfalls haben wir jetzt das lose Ende eines Fadens, an dem wir ziehen können. Würdest du das übernehmen, Oliver?»
«Ja», sagte Frantisek, «gerne.Aber nur, wenn wir jetzt Schluss machen. Ich muss ins Bett. Ich fühle mich wie ein welkes Salatblatt.»
Sechzehn
Als Marthaler eine Viertelstunde später sein Büro verließ, waren die anderen bereits gegangen. Er kehrte noch einmal in den Besprechungsraum zurück, schaltete alle Lampen aus, dann schloss er die Eingangstür von außen ab.Auf dem Bürgersteig blieb er stehen und atmete durch. Noch immer war es warm, aber wenigstens kam jetzt ein wenig Wind auf. Das Viertel war ruhig und dunkel. Nur vereinzelt sah man in den umliegenden Häusern noch ein paar Lichter.
Dann hörte er ein unterdrücktes Lachen.Auf der anderen Straßenseite sah er einen Mann und eine Frau unter einem Baum stehen. Es sah so aus, als würde sich der Mann zu der Frau hinabbeugen, als würden sich ihre Köpfe berühren. Es waren Kerstin Henschel und Oliver Frantisek. Sie schienen Marthaler nicht zu bemerken. Marthaler dachte an Tereza. Er war beunruhigt über das, was sie vorhin am Telefon gesagt hatte. Und mehr noch über das, was sie nicht gesagt hatte.Auf seine Frage, ob sie ihn noch liebe, hatte sie nicht geantwortet. Sie war ihm ausgewichen. Er fragte sich, was mit ihr los war, ob sich etwas veränderthatte zwischen ihnen, ohne dass es ihm aufgefallen war. Er kam zu keinem Ergebnis.
Als siesich kennengelernt hatten, waren sie beide vorsichtig gewesen. Er selbst hatte damals noch tief umKatharina getrauert. Kurz nach ihrer Hochzeit warseine Frau von einem Bankräuber angeschossen worden, zwei Wochen später war sie auf der Intensivstation der Marburger Uniklinik gestorben, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Jahre später war Tereza der erste Mensch gewesen, zu dem Marthaler wieder Vertrauen gefasst hatte. Langsam waren sie aufeinander zugegangen. So wie es war, hatte es ihnen beiden gefallen; keiner hatte das Tempo erhöhen, keiner den anderen zu etwas drängen wollen. «Lass das Leben entscheiden», hatte Tereza damals gesagt. Sie war nach Madrid gegangen, wo sie ihr Studium als Kunsthistorikerin beendet und als Reiseführerin gearbeitet hatte. Erst als sie zurückkam, hatten sie einander näher kennengelernt.
AmAnfang hatte es viele Missverständnisse zwischen ihnen gegeben, was nicht nur daran lag, dass Tereza in Prag aufgewachsen war und Marthaler in der nordhessischen Provinz. Manchmal war es ihm so vorgekommen, als seien sie in zu vielen Dingen zu unterschiedlich, um auf Dauer zusammenbleiben zu können. Dann wieder gab es Momente, in denen sie einander so nah waren, dass sie sich wortlos verstanden. Inzwischen konnte und wollte sich Marthaler ein Leben ohne Tereza nicht mehr vorstellen. Sie arbeiteten beide viel, umso mehr genoss er die Stunden, die sie füreinander Zeit hatten. Er schlief gerne neben ihr ein und wachte gerne neben ihr auf. Er ging gerne mit ihr ins Kino, er redete gerne mit ihr, er ließ sich gerne die Bilder ihrer Lieblingsmaler erklären. Und er mochte es, wenn sie schweigend beisammensaßen, ohne dass es auch nur eine Sekunde peinlich wurde.
Und jetzt hatte erAngst. Zum ersten Mal seit Jahren hatte er das Gefühl, sie nichtzu verstehen, nicht zu wissen, was in ihr vorging und was sie wollte. Vielleicht wusste sie es selbst nicht. Es war nichts passiert.Es hatte weder eine Verstimmung noch einen Streit gegeben. Trotzdem hatte sie heute Morgen geweint. Und sich vorhin am Telefon auf eine Weise geäußert, die er nicht zu deuten wusste. Er merkte, wie sich seine Gedanken im Kreis drehten. Ohne mit ihr zu reden, würde er die Wahrheit nicht erfahren.Aber heute Abend war es bereits zu spät für ein Gespräch. Wenn er nach Hause kam, würde Tereza längst schlafen. Sein Wagen stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Marthaler startete den Motor und schaltete die Scheinwerfer ein. Dann fuhr er los.Als er die roteAmpel an der Burgstraße erreicht hatte, fiel ihm ein, was Sven Liebmann gesagt hatte: dass Michael Helmbrecht in der Heidestraße in einem Hinterhof eineAutowerkstatt betreibe und mit Vorliebe am spätenAbend arbeite. Marthaler knipste die Innenbeleuchtung an und schaute in sein Notizbuch, wo er HelmbrechtsAdresse und Telefonnummer notiert hatte. Er überquerte die Kreuzung, fuhr an
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