Partitur des Todes
Sprecher der Polizei, dessen Stellungnahme übersetzt wurde.
Sie erfuhren nichts Neues. Valerie Rochard war verschwunden. Niemand wusste, wo sie war. Wahrscheinlich befand sie sich in den Händen eines mehrfachen Mörders. Mademoiselle Blanche kam um den Tisch herum und legte von hinten ihre Hände auf Monsieur Hofmanns Brust.
«Ich werde fahren», sagte er. «Ich werde morgen nach Frankfurt fahren.»
«Um was zu tun?»
«Das weiß ich nicht.Aber hierbleiben kann ich jetzt nicht.»
Kurz überlegte sie, ihm diesen Entschluss auszureden.Aber sie wusste, dass es zwecklos gewesen wäre. Wenn er sich einmal entschieden hatte, würde er tun, was er für richtig hielt.
«Nicht ohne mich», sagte sie und küsste ihn auf den Kopf. «Dann komme ich mit.»
Fünfundzwanzig
Am Günthersburgpark war Marthaler in die Straßenbahn Nummer 12 in Richtung Innenstadt gestiegen.Als sie am Kleinen Friedberger Platz vorbeikamen, dachte er an die junge Zahnärztin, die hier bis vor ein paar Jahren ihre Praxis gehabt hatte. Man hatte sie an einem Morgen im Winter ermordet vor ihrem Haus gefunden.
Am Börneplatz bog die Straßenbahn nach rechts in die Battonstraße.Am Willy-Brandt-Platz stieg Marthaler aus. Er wollte den Rest des Weges zu Fuß laufen. Vor dem Opernhaus standen die Besucher inAbendgarderobe und warteten auf den Beginn der Vorstellung. Manche hatten Sektgläser in den Händen, andere nutzten die Zeit, um noch eine Zigarette zu rauchen. Noch immer war die Luft warm und stickig.
Vor der Europäischen Zentralbank sah Marthaler das riesige, beleuchtete Euro-Symbol stehen. Es gab kein anderes Denkmal in der Stadt, das er so sehr verabscheute. Er fragte sich, wie jemand auf die Idee gekommen war, die Macht des Geldes auf so schamlose und zugleich hässlicheArt zur Schau zu stellen. Und warum es niemanden gegeben hatte, der das verhindert hatte. Es war, als wollten die Reichen ihren Reichtum auf besonders dreiste Weise feiern. Und als wolle man den Armen zeigen, dass sie hier nichts zu melden hatten, dass Frankfurt nicht ihr Ort war.Aber vielleicht war es ja wirklich so. Vielleicht beschrieb dieses Denkmal nur die Verhältnisse in der Stadt. Und alles andere, die schönen Plätze, die es auch gab, verdeckten bloß den Widerspruch, der hier alles bestimmte.
Und dennoch: Nur weil es so war, musste es nicht richtig sein. Man musste es nicht hinnehmen. Marthaler lief die Kaiserstraße hinauf und bog dann nach rechts in das Rotlichtviertel. Obwohl es draußen noch hell war, blinkten überall an den Bars und Bordellen die Flackerlichter. Die Türsteher lungerten auf den Bürgersteigen herum und versuchten, Kunden zu ködern. Vor ihm liefen zwei Prostituierte in kurzen Röcken. Sie waren betrunken, blieben immer wieder schwankend stehen und stützten einander, um nicht zu fallen. Beide hatten Mobiltelefone in den Händen.
Vor dem Schaufenster eines ehemaligen Sexshops, dessen Fenster mit Brettern vernagelt waren, hatte ein Mann seine Habseligkeiten um sich versammelt. Er war noch jung. Er hatte Kartons auf dem Boden ausgebreitet und bereitete sich auf die Nacht vor. Wahrscheinlich würde in Kürze eine Streife vorbeikommen und ihn vertreiben.
Vor demHaferk asten blieb Marthaler stehen. Die schmutzigen Scheiben waren durch schwere, purpurfarbene Vorhänge verdeckt.Aus dem Inneren hörte man laute Musik. Er sah sich die vergilbten Fotos in dem Schaukasten an. Bilder von halbnackten Tänzerinnen, die wahrscheinlich längst nicht mehr hier arbeiteten. Oder nie hier gearbeitet hatten. Wahrscheinlich hatte der Betreiber des Ladens die Fotos der Frauen vor langer Zeit aus einer Illustrierten ausgeschnitten.
Im Eingang saß in einer engen Kabine ein vielleicht vierzigjähriger Mann. Seine Nase war gepierct, sein Gesicht wirkte verbraucht.Als er Marthaler sah, hob er ein Mikrophon und begann hineinzusprechen. Seine Stimme wurde über einen Lautsprecher auf die Straße übertragen. «Nur herbei, jungä Mann. Mir hawwe Happy Hour. Kommese, guckese: nackisch, knackisch, guuut!»
Marthaler zahlte fünfzehn Euro und bekam dafür einen Getränkegutschein. Er drückte die schwarze Pendeltür auf und ging hinein.Die Luft in dem Raum war verbraucht. Es roch nach Rauch, nachAlkohol und nach Deodorant. In der Mitte stand eine kleine Bühne aus Holz.Als einziges Requisit gab es eine Messingstange, die zwischen Decke und Boden befestigt war. Die Bühne war leer.
An denAußenwänden gab es kleine durch Balken abgetrennte Nischen, die jeweils
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