Partitur des Todes
blinken. Er hoffte, dass Tereza eine Nachricht hinterlassen hatte, aber es war Elvira, die ihm mitteilte, dass auf arte der Film über die Entdeckung der Partitur von Jacques Offenbach wiederholt würde. Er solle ihn sich unbedingt ansehen. Marthaler schaute auf die Uhr. Er hatte noch eine halbe Stunde Zeit, bis die Sendung begann.
Unter der Dusche begann er nach Namen für das Baby zu suchen.Aber er merkte,dass ihm das Spiel alleine keinen Spaß machte. Ohne Tereza würde ihm nichts einfallen. Er musste ihr in die Augen schauen, er musste sehen, wie sie auf seine Vorschläge reagierte, wie sie lachte, kritisch den Kopf wiegte oder ihn mit gespielter Empörung anschaute.
Er zog sich an und ging in den Keller, um sein Fahrrad zuholen. Er kramte in der Kiste mit dem Werkzeug, bis er die grüne Schachtel mit dem Flickzeug gefunden hatte. Er nahm das Rad mit nach oben und schob es ins Wohnzimmer.
Nachdem er den Fernseher eingeschaltet hatte, ging er zurück in die Küche, um sich rasch noch einen Kaffee zu kochen und zwei Brote in den Toaster zu stecken.Als er sich in seinen Sessel setzte, um zu frühstücken, hatte die Sendung bereits begonnen. Ein alter Mann mit einem Strohhut ging durch die Straßen seines Viertels in Paris. Sein Name war Georges Hofmann. Er erzählte von seinen Freunden, von seinem Leben in Belleville und dass er früher ein kleines Varieté betrieben habe.
Obwohl der alte Mann ihm aufAnhieb sympathisch war, verstand Marthaler nicht, was das alles mit Jacques Offenbach zu tun haben sollte. Er löste den Schlauch aus dem Hinterreifen und pumpte ihn auf. Dann hielt er ihn gegen seine Wange, um zu überprüfen, wo die Luft austrat. Er fand die Stelle sofort. Er raute sie auf und bestrich sie mit Klebstoff. Bevor er den Flicken anbringen konnte, musste er warten.
Dann sah man Monsieur Hofmann im Fernsehstudio sitzen. Man merkte ihm an, wie ungewohnt die Situation für ihn war, wie unwohl er sich fühlte.Auf dem Sessel neben ihm hatte eine junge Frau Platz genommen. Marthaler erkannte sie wieder. Es war dieselbe Frau wie auf dem Foto,das man ihnen aus Paris geschickt hatte. Es war Valerie Rochard.
Als die beiden miteinander sprachen, merkte Marthaler, wie seine Aufmerksamkeit wuchs. Zugleich wurde ihm unbehaglich zumute. Dass jemand über so lange Zeit seine Kindheit, seine Herkunft und seine Eltern verleugnen konnte, war ihm nicht geheuer. Trotzdem verstand er Monsieur Hofmann. Er verstand, dass es Dinge gab, dieso ungeheuerlich waren, dass man sie am liebsten ignorierte, dass man nur weiterleben konnte, wenn man versuchte, nicht an sie zudenken.Aber irgendwann ging auch das nicht mehr. Irgendwann war man gezwungen, in den Abgrund zu schauen.
Als das Interview mit MonsieurHofmann beendet war, wurde wieder ein Film gezeigt. Der alte Mann saß auf einer Terrasse und blätterte in einem Stapel handschriftlicher Noten. Dann sah man Valerie Rochard in ein Mikrophon sprechen: «Aufgrund unserer Sendung hat sich eine Anruferin gemeldet und Monsieur Hofmann mitgeteilt, dass sie Post für ihn habe. Ein Päckchen, das sechzig Jahre brauchte, um seinen rechtmäßigen Empfänger zu erreichen.Auf dem Umschlag steht alsAbsender der Name von Monsieur Hofmanns Vater und das Wort ‹Auschwitz›. Was als Überraschung begann, wurde zur Sensation, als wir den Umschlag öffneten. Zutage kam das verlorengeglaubte Manuskript einer frühen Operette des weltberühmten Komponisten Jacques Offenbach. Sie trägt den Titel: Das Geheimnis einer Sommernacht. Ein erster Vergleich der Musikwissenschaftlerin Sandrine Foret bestätigt zweifelsfrei die Echtheit der Handschrift. Eine Entdeckung ersten Ranges, welche die Musikwelt in einigeAufregung versetzen dürfte.» Er saß auf seinem Rad und atmete durch. Die Luft war frisch und die Straßen noch leer. Er fuhr die Friedberger Landstraße hinauf, bog nach rechts und hielt in der Rohrbachstraße vor Harrys Backshop. Der kleine Laden, dessen Wände mit Kinderfotos aus aller Welt geschmückt waren, hatte sich in den letzten Jahrenvom Geheimtipp zur beliebtesten Bäckerei des Viertels entwickelt. Selbst jetzt, am frühen Sonntagmorgen, stand die Schlange der Kunden bis auf die Straße. Marthaler bestellte zwei der fettigen Maisbrötchen und verstaute sie in seinem kleinen Rucksack. So würde er über den Tag kommen, ohne sich um sein Mittagessen Gedanken machen zu müssen.
Er fuhrweiter auf der B 3 stadtauswärts. Hinter der Friedberger Warte überquerte er die Fahrbahn und nahm
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