Partitur des Todes
den schmalen asphaltierten Weg, der an dem Gelände der ehemaligen US-Kasernen entlangführte, dann einen Linksschwenk machte und parallel zurAutobahn verlief.
Als Marthaler die Kleingärten hinter sich gelassen hatte,öffnete sich unter ihm ein riesiges, freies Gelände,auf dem in Kürze eines der größten Neubauviertel der Stadt entstehen sollte.Aber noch sah man nur wenige Häuser, die wie bunte Farbtupfer inmitten der weiten, mit Schutt übersäten Brachflächen standen. Kein Gebäude schien dem anderen zu gleichen. Es gab Häuser, die ganz aus Holz errichtetwaren, bunt angestrichene Reihenhäuser und eine kleine Siedlung mit Eigentumswohnungen, deren Innenhof man durch einen Torbogen erreichen konnte. Fast schien es, als habe man hier den Wildwuchs zum Prinzip gemacht, und Marthaler konnte nicht sagen, dass ihm das missfiel. Jedenfalls gefiel es ihm besser als die Einförmigkeit jener Siedlung, in der er gestern den jungen Vietnamesen besucht hatte, und deren Dächer man ein paar hundert Meter weiter hinter den Bäumen hervorragen sah.
Langsam radelte er die staubige Straße hinunter. Verborgen zwischen ein paar Baucontainern parkte ein anthrazitfarbener OpelAstra, der zur Flotte der zivilen Polizeifahrzeuge gehörte.Am Steuer saß Kurt Delius. Neben ihm auf dem Beifahrersitz schlief sein Kollege Horst Becker.
Marthaler lehnte sein Rad an die Wand eines Containers. Dann klopfte er leise auf das Wagendach und wartete, dass Delius die Scheibe herunterließ.
«Und? Hat sich Heubach gezeigt?»
Delius gähnte und schüttelte den Kopf. «Nein. Nichts. Es hat sich die ganze Nacht nichts gerührt. Wir haben gestern Abend geklingelt, aber es war niemand zu Hause.»
«Und was hättet ihr gemacht, wenn er doch da gewesen wäre?»
Delius griff neben sich und hielt ein Exemplar der Zeitschrift Wachtturm hoch. «Wir hätten gesagt, dass wir von den Zeugen Jehovas kommen. Dann hätten wir dich angerufen.»
Marthaler grinste. Er war sich sicher, dass man den beiden die Rolle abgenommen hätte. «Wo wohnt er?»
Delius zeigte mit dem Kopf in Richtung eines einzeln stehenden Doppelhauses, von dem erst eine Hälfte bewohnt zu sein schien. Das Gebäude war mit einem stark abfallenden Pultdach versehen und die Fassade mit einer blauen Farbe angestrichen, die so stark in der Morgensonne leuchtete, dass es fast in den Augen schmerzte. Unter den außergewöhnlichen Häusern der Siedlung war dieses gewiss das auffälligste.
«Was ist überhaupt mit dem Kerl? Warum sollen wir seinHaus überwachen?»
«Er arbeitet für einen Musikverlag», sagte Marthaler. «Gemeinsam mit Morlang hat er irgendeine Sauerei im Schilde geführt.Als ich mich mit ihm unterhalten wollte, hat er das Weite gesucht. Und mich dabei fast über den Haufen gefahren.»
Auf dem Beifahrersitz begann sich Horst Becker zu räkeln. Dann schlug er dieAugen auf und sah Marthaler müde an. «Was ist, bekommen wir endlich eineAblösung?», fragte er.
Plötzlich hob Kurt Delius seine rechte Hand. «Warte! Das wird nicht mehr nötig sein!» Dann wandte er sich an Marthaler: «Los, Robert, das könnte er sein. Setz dich in den Wagen, bevor er dich sieht.»
Zwei Sekunden später saß Marthaler auf der Rückbank. Zu dritt starrten die Polizisten auf den silbergrauen Audi TT, der sich über die staubige Straße näherte. Kurz darauf hielt der Wagen vor dem blauen Haus. Eine halbe Minute lang geschah gar nichts. Dann öffnete sich die Fahrertür, und der Mann im grauenAnzug stieg aus. Er schaute sich mehrmals um, dann ging er auf den Eingang zu.
«Ist er das?», fragte Delius.
«Ja.»
«Was sollen wir machen?»
«Nichts. Wir warten einen Moment. Er soll sich erst sicher fühlen. Ich will sehen, was er vorhat. Sollte er in zehn Minuten nicht wieder rauskommen, gehe ich hin und werde mit ihm reden. Wenn er sich weigert und versucht abzuhauen, haltet ihr ihn auf. Wenn er mich reinlässt, fahrt ihr ins Weiße Haus. Ich werde schon mit ihm fertig.» Neun Minuten später ging Marthaler los.Als er den Eingang erreicht hatte und gerade auf den Klingelknopf drücken wollte, wurdedie Haustür von innen geöffnet. Mit der rechten Hand fasste Marthaler unter seiner Jacke an den Griff der Dienstwaffe, mit der linken zog er seine Marke hervor.
«Werner Heubach? Kriminalpolizei. Ich muss mit Ihnen reden.»
Der Mann zuckte vor Schreck zusammen. Für einen Moment sah es so aus, als wolle er die Tür von innen zuschlagen. Marthaler machte einen Schritt vorwärts und drängte Heubach
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