Passagier nach Frankfurt
wandte sich ihm zu.
«Verzeihen Sie, könnte ich mir Ihr Programmheft ansehen? Ich habe meines auf dem Weg zu meinem Platz verloren, fürchte ich.»
«Natürlich», erwiderte er.
Er reichte das Programmheft hinüber, und sie nahm es entgegen. Sie öffnete es und studierte den Inhalt. Der zweite Teil der Aufführung begann. Es fing mit der Lohengrin-Ouvertüre an. Am Ende reichte sie ihm das Programmheft mit ein paar Dankesworten zurück.
«Haben Sie vielen Dank. Das war sehr freundlich von Ihnen.»
Das nächste Stück war das Waldweben aus Siegfried. Er konsultierte das Programmheft, das sie ihm zurückgegeben hatte. Da bemerkte er etwas, das schwach mit Bleistift unten auf einer Seite geschrieben stand. Er versuchte nicht, es sofort zu lesen. Das Licht hätte dazu auch gar nicht ausgereicht. Er klappte das Programmheft zu und hielt es fest. Er war sich sicher, dass er selbst nichts dorthin geschrieben hatte. Vielleicht hatte sie ihm also ihr eigenes Programmheft gegeben, dachte er, und vorher schon eine Botschaft an ihn hineingeschrieben. Die allgemeine Atmosphäre von Geheimnis und Gefahr herrschte noch immer, dachte er. Das Treffen auf der Hungerford-Brücke und der Umschlag mit der Eintrittskarte, die ihm in die Hand gedrückt worden war. Und nun die Frau, die stumm neben ihm saß. Er sah sie ein- oder zweimal an mit dem flüchtigen, gleichgültigen Blick, den man einer Fremden, die neben einem sitzt, schenkt. Sie saß zurückgelehnt auf ihrem Sessel; ihr hochgeschlossenes Kleid war aus stumpfem, dunklem Krepp. Ein antiker Goldreifen umschloss ihren Hals. Ihr Haar war kurz geschnitten. Sie erwiderte seinen Blick nicht. Er fragte sich, ob irgendjemand auf einem der Plätze in der Festival Hall sie beobachtete – oder ihn? Ob jemand registrierte, wenn sie sich ansahen oder miteinander sprachen? Anzunehmen war das, zumindest bestand die Möglichkeit. Sie hatte seine Zeitungsannonce beantwortet. Das sollte ihm genügen. Seine Neugier war unvermindert, aber er wusste jetzt wenigstens, dass Daphne Theofanous – alias Mary Ann – hier in London war. Es gab künftige Möglichkeiten, mehr darüber zu erfahren, was genau im Gange war. Aber der Schlachtplan musste ihr überlassen bleiben. Er musste ihren Hinweisen folgen. So wie er auf dem Flughafen ihre Anweisungen befolgt hatte, würde er sie auch jetzt befolgen und – er musste es zugeben – das Leben war plötzlich interessanter geworden. Das war besser als die langweiligen Konferenzen in seinem politischen Dasein. Hatte ihn tatsächlich ein Wagen gestreift neulich am Abend? Er glaubte es zumindest. Zwei Versuche – nicht nur einer. Es war allerdings leicht anzunehmen, dass man das Ziel eines Überfalls war. Die Leute fuhren heutzutage so rücksichtslos. Er faltete sein Programmheft zusammen und sah es nicht mehr an. Die Musik ging zu Ende. Die Frau neben ihm sprach plötzlich. Sie drehte nicht den Kopf und man sah sie nicht sprechen. Aber sie sprach hörbar, mit einem kleinen Seufzer zwischen den Worten, als redete sie mit sich selbst oder mit ihrem Nachbarn zur anderen Seite.
«Jung-Siegfried», sagte sie und seufzte wieder.
Die Vorstellung endete mit dem Marsch aus den Meistersingern. Nach enthusiastischem Beifall begann das Publikum seine Plätze zu verlassen. Er wartete, ob sie ihm irgendeinen Hinweis gäbe, aber das tat sie nicht. Sie nahm Ihren Umhang, verließ die Sitzreihe und bewegte sich mit leicht beschleunigten Schritten mit den anderen Leuten nach vorn und verschwand in der Menge.
Stafford Nye ging zu seinem Wagen und fuhr nach Hause. Dort angekommen, legte er das Programmheft aus der Festival Hall auf seinen Schreibtisch und untersuchte es eingehend, nachdem er einen Kaffee aufgesetzt hatte.
Das Programmheft war eine echte Enttäuschung. Es schien keinerlei Botschaft zu enthalten. Nur auf einer Seite über der Auflistung der Stücke befanden sich die Bleistiftmarkierungen, die er vage gesehen hatte. Aber es waren keine Wörter, Buchstaben oder Zahlen. Es schien nur eine musikalische Notiz zu sein. Es war, wie wenn jemand ein musikalisches Motiv mit einem etwas unzulänglichen Bleistift in Noten aufgezeichnet hätte. Einen Augenblick lang glaubte Stafford Nye, die Notiz enthalte eine geheime Botschaft, die er mittels Hitzebehandlung hervorbringen könnte. Sehr vorsichtig und etwas beschämt über seine melodramatische Fantasie hielt er sie an die Elektroheizung, aber das führte zu keinem Ergebnis. Mit einem Seufzer warf er das Programmheft
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