Passwort: Henrietta
die Maus und klickte auf »Suchen«, bevor sie ihre Meinung noch änderte.
Der Bildschirm füllte sich mit einer Liste von Artikeln, die über ihren Vater veröffentlicht worden waren. Der erste war auf den 7. Juni 2001 datiert:
Hochrangiger KWC –Investmentbanker wegen Insiderhandel festgenommen
. Ein nur allzu bekannter Schmerz schnürte ihr die Kehle zu, als sie die nächsten Schlagzeilen überflog:
Banker Martinez weist Anschuldigungen zurück
;
Insider-Trading-Ring aufgeflogen, große Investmentbanken betroffen
;
Martinez: Millionengewinne durch Insidergeschäfte
. Harry ging die Liste durch, die den Abstieg ihres Vaters hin zur Katastrophe nachverfolgte, bis sie beim letzten Eintrag angekommen war. Er war auf den 14. April 2003 datiert. Die Schlagzeile war rein sachlich, von der Sensationsgier der früheren Einträge war nichts mehr zu spüren.
Salvador Martinez zu Gefängnishaft verurteilt
.
Sie hatte sich an jenem Tag, als sie erfuhr, dass man ihren Vater ins Gefängnis stecken würde, in der Küche ihrer Mutter aufgehalten. Miriam und Amaranta waren von der Urteilsverkündung zurückgekehrt. Harry hatte sie nicht begleitet. In den Monaten zuvor hatte sie es aufgegeben, die Gerichtsverhandlungen mitzuverfolgen oder die Zeitungsartikel zu lesen, die darüber berichteten. Da sie nicht mehr an die Unschuld ihres Vaters glaubte, sah sie sich auch außerstande, sich dem Ausmaß seiner Schuld zu stellen.
Harry hatte auf der Türschwelle gestanden, die Arme wie in einer Zwangsjacke um die Schultern geschlungen. Miriam saß kerzengerade am Küchentisch und fummelte an einem Geschirrtuch herum. Ihr blasses Haar war zu einem strengen Knoten gebunden, der ihre Haut spannte und ihrem Gesicht fast slawische Züge verlieh. Harry, die ihrer Mutter nicht in die Augen sehen konnte, konzentrierte sich auf das Geschirrtuch. Es war rot-weiß gestreift und erinnerte sie an das Schäferkostüm in ihrer ersten Theateraufführung an der Schule. Sie hätte einer der Engel mit Flügeln und Heiligenschein sein wollen, aber ihre Mutter hatte ihr gesagt, dass man für einen Engel blond sein musste.
»Dein Vater wird für acht Jahre ins Arbour-Hill-Gefängnis geschickt«, sagte Miriam. Sie sah sich in ihrer funkelnden Küche um. »Ich habe gehört, dort sitzen vor allem Mörder und Vergewaltiger.«
Harry zitterte bei dieser Erinnerung und versuchte, sich auf den Bildschirm zu konzentrieren. Sie scrollte zum Anfang der Seite und ging erneut die Schlagzeilen durch, dieses Mal las sie den gesamten Text jedes Artikels. Stück für Stück fügten sich die Details der Geschichte zusammen, die sie zum größten Teil bereits gekannt hatte. Von manchen Dingen allerdings hatte sie nie zuvor gehört.
Alles hatte mit dem Sorohan-Deal begonnen. 1998 war Sorohan Software nur eines der vielen Start-up-Unternehmen, die zwar maßgeblich von einem Investor unterstützt, deren Anteile aber nicht oder kaum gehandelt wurden. Fehlende Unternehmensgewinne wurden durch cleveres Marketing wettgemacht, und 1999 schwebte die Firma an die Börse und erzielte am ersten Tag rekordverdächtige Kursgewinne. Fast ein Jahr lang trotzte der Sorohan-Kurs dem Gesetz der Schwerkraft.
Dann, im April 2000, wurde das Unternehmen Opfer der platzenden Dotcom-Blase. Der weltweite Sell Off von Technologiewerten ließ auch den Sorohan-Kurs einbrechen. Investoren hatten jegliches Interesse an dem Unternehmen verloren.
Bis dann ein halbes Jahr später das Handelsvolumen der Aktie urplötzlich solche Ausmaße annahm, dass es die Dubliner Börsenaufsicht auf den Plan rief. Zunächst wurde lediglich eine Routineuntersuchung eingeleitet. Zwei Wochen später allerdings wurde in der Presse verkündet, dass Sorohan vom Software-Riesen Aventus übernommen werde, woraufhin der Kurs wie ein Torpedo abging. Die Börse verstärkte ihre Ermittlungen und schaltete die Rechtsabteilung ein. Diese stürzte sich auf den Duft, der den durchgesickerten Informationen anhaftete, und begann, den betrügerischen Transaktionen nachzugehen. Sie befragte die Banken, über deren Depots die verdächtigen Aktiengeschäfte abgewickelt worden waren. Sie lud die Hauptverantwortlichen der Aventus-Sorohan-Übernahme zu Gesprächen vor.
Schließlich führten die Ermittlungen zu einem Mann namens Leon Ritch.
In einem der Zeitungsartikel war Leons Foto abgedruckt. Harry besah es sich genauer. Er hatte das Gesicht von der Kamera abgewandt, seine Mundwinkel hingen wie die einer knurrenden Bulldogge nach unten,
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