Passwort: Henrietta
durch, die sie bislang hatte, und suchte nach etwas, womit sie das Interesse der Journalistin wecken konnte, ohne zu viel preiszugeben. Sie fing an, die S-Kurve des Dollarzeichens mit einem Schatten zu versehen. »Was, wenn ich Ihnen erzähle, dass jemand, der Martinez sehr nahesteht, gestern beinahe umgebracht worden wäre?«
»Und? Ständig sterben Menschen. Worauf wollen Sie hinaus?«
»Worauf ich hinauswill? Es sieht so aus, als wäre der Trading-Ring dafür verantwortlich.«
Schweigen am anderen Ende der Leitung. Kurz glaubte Harry, die Verbindung wäre unterbrochen. Dann räusperte sich Ruth und sagte im Brustton der Überzeugung: »Das ist unmöglich.«
Harry setzte sich kerzengerade auf. Hätte sie Antennen gehabt, würden diese jetzt unter den eintreffenden Signalen vibrieren. »Kommen Sie, Sie wissen doch was. Geben Sie mir einen Namen. Einen nur.«
»Vergessen Sie die dämliche Liste. Ohne Beweise können Sie nichts drucken.«
»Angenommen, ich nenne Ihnen einen Namen, und Sie sagen nur ja oder nein?«
»Das ist doch verrückt. Sie haben nichts in der Hand.«
»Wie wär’s mit Folgendem, nur mal so zur Probe«, sagte Harry und dachte an ihr Treffen bei KWC . Sie zeichnete ein großes »F« mit einem Kreis darum. »Felix Roche.«
Wieder eine lange Pause. Dieses Schweigen, war sich Harry sicher, enthielt Informationen.
Dann sagte Ruth: »Okay, das ist Zeitverschwendung. Aber wissen Sie, was? Ich hab diesen Nachmittag sowieso nichts Besseres zu tun, also spiel ich das Spielchen mit. Kennen Sie die Palace Bar in der Fleet Street?«
Harry hörte mit ihren Kritzeleien auf. »Ja.«
»Treffen Sie mich dort in zwanzig Minuten.«
[home]
18
H arry bezahlte den Taxifahrer, sah zum Eingang der Palace Bar und überlegte, woran sie die Reporterin erkennen sollte.
Sie nahm ihre Tasche in die linke Hand und ging über die Pflastersteine. Sie hatte den Laptop mitgenommen, nachdem sie nichts Wertvolles mehr in ihrer Wohnung zurücklassen wollte. Sie sah über die Schulter, warf einen kurzen Blick auf die Passanten und spürte, wie ihr Gänsehaut über die Arme kroch. Es war das erste Mal seit dem Vorfall am Bahnhof, dass sie allein unterwegs war.
Sie drückte die Tür auf und trat aus dem Sonnenlicht in die Bar. Drinnen war es dunkel und seltsam gedämpft. Es dauerte etwas, bis ihr auffiel, was fehlte. Keine laute Musik, keine grölende Menge. Nur das Klacken der Kasse und das gelegentliche Murmeln der Handvoll Gäste. Harry betrachtete deren Gesichter und bemerkte, dass sie die einzige Frau hier war. Sie sah auf ihre Uhr. Sie war nur ein paar Minuten zu spät. Ruth Woods war doch nicht schon gegangen?
»Ich hab beim
Daily Express
nachgefragt«, erklang hinter ihr eine Stimme. »Dort hat man von einer Catalina Diego noch nie was gehört.«
Harry fuhr herum.
Eine dürre, dunkelhaarige Frau Anfang vierzig sah auf sie herab, ihr Kopf ruckte wie der eines Vogels, der einen Wurm inspizierte.
»Sie sind Ruth Woods?«
»Ja.« Die Frau kniff die Augen zusammen. Sie trug eine schwarze Brille mit runden Gläsern, ihre Haare waren zu einem kinnlangen Bubikopf geschnitten mit einem Pony, der ihr bis zu den Augenbrauen reichte. Sie sah aus wie jemand, der einen schwarzen Sturzhelm mit dazugehöriger Brille trug.
Die Kettchen an ihrem Handgelenk klimperten, als sie mit dem Finger auf Harry zeigte. »Sie sind seine Tochter, nicht wahr?«
Scheiße. Harry hätte es sich denken können. Ihr ganzes Leben lang hatte man ihr gesagt, wie ähnlich sie ihm sehe. Die gleichen dunklen Augen und Brauen, die gleiche gerade Nase. Und, laut ihrer Mutter, die gleiche Nonchalance gegenüber Regeln und Gesetzen.
Sie zuckte mit den Schultern. »Okay, ich bin Harry Martinez. Macht es einen Unterschied?«
»Es macht es sicherlich interessanter. Suchen Sie sich einen Tisch aus.« Ohne auf eine Erwiderung zu warten, drehte sich Ruth um und stolzierte zur Theke.
Harry sah sich um. Es gab nicht gerade einen Run auf freie Plätze. Sie ging zu ihrem Lieblingsbereich des Pubs, den kleinen rechteckigen Raum hinten mit seinem verkratzten Holzboden und der Kuppel aus farbigen Glas. Sonnenlicht fiel herein und erhellte den Raum wie eine Laterne. Es saß niemand hier.
Harry nahm an einem Ecktisch Platz. Von der Rückwand blickte ein Porträt von Brendan Behan auf sie herab, dessen römische Nase und dunkler Teint sie – überflüssigerweise – an Dillon erinnerte. Sie spürte einen dumpfen Schmerz und musste tatsächlich
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