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während er der Presse zu entkommen versuchte. Er war Ende vierzig, klein, untersetzt und hatte so an die zehn Kilo Übergewicht.
Leon war Investmentbanker bei Merrion & Bernstein, der Gesellschaft, die von Aventus mit der Sorohan-Übernahme betraut worden war. Als die Börse seine vergangenen Trades unter die Lupe nahm, stellte man fest, dass er nicht nur kurz vor Bekanntgabe der Übernahme Sorohan-Aktien in großem Stil erworben, sondern in der Vergangenheit Geschäfte getätigt hatte, die alle nach demselben Muster abgelaufen waren. Der Fall wurde an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet, kurz darauf wurde Leon verhaftet.
Doch Leon hatte nicht vor, allein unterzugehen. Er behauptete, als Teil eines Insider-Trading-Rings gehandelt zu haben, und wäre bereit, seine Kollegen preiszugeben, falls dies mildernd auf das Strafmaß Einfluss hätte. Laut seinen Aussagen erstreckte sich der Ring über drei der führenden Investmentbanken: KWC , Merrion & Bernstein und JX Warner. Dieses Netz aus Investmentbankern tauschte vertrauliche Informationen aus und fuhr mit deren Hilfe gewaltige Handelsgewinne ein. Sie waren auf Übernahmen und Fusionen im Technologiebereich spezialisiert und nutzten das explosive Kurzpotenzial der Tech-Aktien sowie den hohen Cash-Bestand der Internet-Unternehmen, die entschlossen schienen, andere Firmen ungeachtet aller Kosten aufzukaufen. Leon zufolge hatte der Ring fast zwei Jahre lang unbemerkt operiert und dabei Gewinne von mehr als achtzig Millionen Dollar erzielt.
Leon hatte sich gut abgesichert. Er hatte eine Liste mit Namen zusammengestellt samt belastenden Dokumenten, E-Mails und aufgezeichneten Gesprächen, die er den Behörden übergab. Die Namensliste wurde niemals veröffentlicht, Gerüchten zufolge enthielt sie allerdings einige der einflussreichsten Gestalten im Bankensektor des Landes. Und eine davon war Salvador Martinez.
Harry blinzelte. Ohne Vorwarnung war auf ihrem Bildschirm das Gesicht ihres Vaters erschienen. Er stand mit dem Rücken zum Gerichtsgebäude und lächelte wie eine Berühmtheit in die Kamera. Sein graumeliertes Haar und sein Bart waren ordentlich frisiert. Im Gegensatz dazu erschienen seine Augenbrauen so dunkel, als wären sie mit einem schwarzer Marker angemalt worden. Sein Lächeln war entspannt, die Wärme, die seine braunen Augen ausstrahlten, wirkte vertrauenswürdig.
Harry schlug die Hand vor den Mund und starrte auf den Monitor. Es war das erste Mal seit über sechs Jahren, dass sie das Gesicht ihres Vaters sah. Sie schlang die Arme um sich und brauchte einen Moment, bis sie sich wieder gefangen hatte. Dann scrollte sie weiter nach unten, bis das Foto nicht mehr zu sehen war.
Sie überflog den Text des Artikels. Ihr Vater wurde als
freundlicher, höflicher Mensch
beschrieben,
der sich jedoch gebiert, als stünde er über dem Gesetz
. Harry zog die Augenbrauen hoch und suchte den Namen des Journalisten. Ruth Woods. Viele der Artikel, bemerkte sie erst jetzt, stammten von ihr. Ob sich Ms. Woods jemals mit ihrem Vater getroffen hatte? Jedenfalls hatte sie mit dieser Beschreibung den Nagel auf den Kopf getroffen.
Sie atmete tief durch und klickte auf den letzten Artikel. Kurz und bündig wurden darin die nackten Tatsachen zusammengefasst, die das Ende der Geschichte markierten, zumindest, soweit sie die Presse betrafen. Nach einem langen Gerichtsverfahren, das sich über fast zwei Jahre erstreckte, wurden Harrys Vater und Leon Ritch in zwölf Fällen von Insiderhandel für schuldig befunden. Beide wurden mit einer Geldstrafe von vierzig Millionen belegt und zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Angesichts seiner Zusammenarbeit mit den Behörden wurde Leons Strafmaß auf ein Jahr reduziert. Sonst war niemand verhaftet worden.
Harrys Blick fiel auf das Foto, das diesen Artikel begleitete. Es zeigte einen Mann ungefähr in ihrem Alter, der auf dem Weg aus dem Gericht in die Kamera starrte. Verwundert betrachtete sie eingehender dessen dunkles Haar, die feingliedrigen Gesichtszüge und die wachsamen, grauen Augen.
Dann fuhr sie zusammen. Er sah auf dem Foto jünger aus, aber es war derselbe Detective. Der Detective, der am Tag zuvor in ihre Wohnung gekommen war. Ihr Blick ging zur Bildunterschrift:
Detective Lynne, Garda-Betrugsdezernat
.
Betrugsdezernat. Dann hatte er also vor neun Jahren am Fall ihres Vaters gearbeitet. Aber warum zum Teufel kam ein Beamter des Betrugsdezernats zu Routineermittlungen bei einem Einbruch in ihre Wohnung? Sie musste an das
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