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Passwort: Henrietta

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Titel: Passwort: Henrietta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ava McCarthy
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hatte sich schon vor langer Zeit von ihm zurückgezogen, weil sie es nicht mehr ausgehalten hatte. Harry konnte es gut verstehen. Es tat weh, wenn man wusste, dass der, den man sich zum Helden erkoren hatte, nur ein Hochstapler war.
    »Meine Damen, es ist so weit.«
    Harry fuhr zusammen. Der Beamte winkte sie heran und schob Papiere durch die Luke unter der Glasscheibe. Sie wartete und ließ der anderen Frau den Vortritt.
    Die Frau reichte ein in Geschenkpapier gewickeltes Päckchen durch die Luke. Verdammt, vielleicht hätte sie ihrem Vater auch etwas mitbringen sollen. Schokolade oder Obst. Dann richtete sie sich auf und trat an die Luke. Es war nicht die Zeit für Süßigkeiten oder Trauben. Ihr Vater saß wegen Insiderhandel im Gefängnis, er lag nicht wegen einer Blinddarmentzündung im Krankenhaus.
    Der Beamte schob ein Blatt durch die Luke.
    »Hier ist Ihr Ausweis«, sagte er. »Den geben Sie am Gefängnistor ab. Ich passe so lang auf Ihre Tasche auf, Sie bekommen Sie wieder, wenn Sie gehen.« Wieder betrachtete er sie über den Brillenrand. »Folgen Sie einfach Gracie, sie kennt sich hier aus.«
    Harry dankte ihm, reichte ihm ihre Tasche und nahm die Quittung in Empfang. Dann folgte sie der älteren Frau nach draußen.
    Es war kalt und feucht. Der bleigraue Morgenhimmel sah aus, als würde er gleich einen heftigen Schauer niedergehen lassen. Das Arbour-Hill-Gefängnis lag in der Nähe des Hafens, die üblichen Verkehrsgeräusche aber klangen weit entfernt, als wäre die Welt draußen ausgesperrt.
    Harry drehte sich zum Gefängnistor um. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. Die graue Gefängnismauer ragte fünf, sechs Meter hoch vor ihr auf, die öde Betonwand schien sich unendlich weit zu erstrecken. Sie kam sich vor, als würde sie erdrückt werden. Vor ihr in der Wand lag der zentrale Eingangsbereich, ein hoher, gotisch aussehender Bau mit zinnenbewehrtem Portal. Gracie marschierte geradewegs darauf zu. Harry konnte sich nicht rühren. In den Horrorstorys wohnten in genau solchen Gebäuden die Vampire.
    »Lassen Sie sich von den Mauern nicht stören«, sagte Gracie, ohne sich umzudrehen. »Die jagen einem Angst ein, aber man gewöhnt sich daran.«
    Zitternd folgte Harry ihr zum Stahltor, wo ein Beamter ihre Ausweise in Empfang nahm und sie durch eine schwere Eisentür geleitete. Dahinter führte sie ein weiterer Beamter durch einen schmalen Gang, der Harry an ihre alte Grundschule erinnerte: grüne Wände, harte Böden und etwas, was man als Zentralheizung bezeichnen könnte. Der Beamte erklärte beim Gehen die grundlegenden Besucherregeln: eine halbe Stunde Besuchszeit, ein Besuch pro Woche, Rauchen verboten, den Gefangenen berühren verboten, Übergabe eingeschmuggelter Dinge verboten. Er öffnete eine Tür, auf der »Besuchsraum« stand, und trat zur Seite, um sie einzulassen.
    Harry folgte Gracie in den Raum, unangenehm wurde ihr bewusst, wie sehr ihr Herz pochte. Vor ihr stand ein langer Holztisch mit einer Reihe von Stühlen an jeder Längsseite. Der Tisch war ungewöhnlich breit, knapp zwei Meter, breit genug jedenfalls, um jeden Körperkontakt mit den Insassen zu verhindern.
    Zwei Aufsichtsbeamte saßen an den gegenüberliegenden Wandseiten auf erhöht postierten Stühlen. Die einzige Person am Tisch war ein ältlicher Mann, der aufsah, als sich Gracie ihm gegenüber niederließ. Harry zögerte, dann nahm sie auf einem Stuhl in der Mitte des Tisches Platz und verschränkte die Hände. Sie wünschte, sie hätte noch ihre Tasche bei sich, damit sie etwas zum Herumfummeln hätte. Ihr direkt gegenüber lag eine weitere Tür. Darauf richtete sie ihren Blick und wartete auf ihren Vater.
    Gracie neben ihr unterhielt sich leise mit dem älteren Mann. Harry sah kurz hinüber. Er hatte ein plumpes Gesicht, Hängebacken, an denen er nestelte, während er Gracie zuhörte.
    Ein leises Klicken war zu hören, und die Tür gegenüber von Harry schwang auf. Ein Beamter trat über die Schwelle, stellte sich an die offene Tür und lächelte dem Mann zu, der in den Raum trat.
    »Bis dann, Sal«, sagte der Beamte und salutierte, bevor er ging.
    »Gracias«,
sagte der Mann.
    Er blieb an der Tür stehen. Er trug einen marineblauen Pullover und dunkle Hosen, beides gewaschen und gebügelt. Sein Haar war vollkommen ergraut, der Bart dicht und schneeweiß, was ihm das Aussehen eines Seebären verlieh. Als Kind hatte Harry ihren Vater immer für den echten Käpt’n Iglo gehalten.
    Bildete sie sich das alles nur

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