Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Passwort: Henrietta

Passwort: Henrietta

Titel: Passwort: Henrietta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ava McCarthy
Vom Netzwerk:
ein, oder hatte sie getrunken?
    Er blinzelte sie an. Harry streckte den Rücken durch, zog die Beine unter den Stuhl und kreuzte die Knöchel. Ihr war bewusst, wie verkrampft sie dasaß, eine lockere Haltung aber wollte ihr einfach nicht gelingen. Schon jetzt spürte sie, wie belegt ihr Gaumen war, wie die Gefühle in ihr hochkamen.
    Er lächelte sie an, schüttelte den Kopf, streckte ihr die Arme entgegen und ließ sie wieder fallen.
    »Hija mía.«
Meine Tochter.
    Einen Augenblick lang betrachtete er den Boden, dann räusperte er sich und setzte sich ihr gegenüber.
    »Man hat mir nicht gesagt, dass du es bist, Harry«, sagte er. »Es tut so gut, dich wiederzusehen, du hast ja keine Vorstellung.«
    Er beugte sich vor und streckte den Arm aus, überlegte es sich dann anders, zog ihn wieder zurück und verschränkte die Hände vor sich. Wieder spürte Harry, wie die Gefühle in ihr hochkamen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie auf der Schulmauer saß. Es gelang ihr nicht.
    »Schau dich an«, sagte er. »Du bist so erwachsen geworden. Eine junge Frau.«
    Seine braunen Augen hatten etwas Trübes an sich, die Brauen aber waren so schwarz wie eh und je. Harry ließ den Blick sinken.
    »Ich hätte schon früher kommen sollen«, sagte sie.
    »Schhh, Unsinn, Liebes, das hier ist kein Ort für dich. Es war schon richtig, nicht hierherzukommen. Ich habe deiner Mutter gesagt, dass ich keinen von euch hier sehen möchte.«
    »Besucht sie dich?«
    Er schüttelte den Kopf. »Wir haben uns darauf verständigt, dass es besser ist, wenn sie nicht kommt.«
    Harry versuchte, sich ihre elegante Mutter in einer Umgebung wie dieser vorzustellen, aber das Bild verweigerte sich ihr.
    Ihr Vater zupfte an seinem Ärmel. »Deine Mutter hatte hohe Erwartungen an das Leben mit einem Investmentbanker. Dem konnte ich leider nicht entsprechen. Es ist meine Schuld, nicht ihre.«
    »Und Amaranta? Kommt sie dich besuchen?«
    »Na ja, am Anfang, ja. Ziemlich regelmäßig.« Er lächelte sie verschwörerisch an. »Du kennst Amaranta. Tut immer ihre Pflicht. Aber dann hat sie das Baby gekriegt, und sie war natürlich ziemlich eingespannt. Anfangs wollte sie Ella mitbringen, doch das habe ich mir ausdrücklich verbeten.« Er strich mit der flachen Hand durch die Luft, die Innenfläche nach unten gekehrt, als würde er ein Kartendeck ausbreiten. »Unter keinen Umständen konnte ich zulassen, dass meine Enkeltochter an einen solchen Ort kommt.«
    Harry lehnte sich zurück. Sie hatte gedacht, sie wäre die Einzige gewesen, die nicht gekommen wäre. »Dann bekommst du also keinen Besuch?«
    Er zuckte mit den Schultern. »Besucher machen manchmal alles nur schwerer.« Er nickte in Richtung Gracie und ihres Gefährten. »Nimm Brendan dort drüben. Seine Schwester besucht ihn jeden Dienstag. Seit dreiundzwanzig Jahren. Und dann sitzt sie da und foltert ihn mit ihren Erzählungen von einem Leben und einer Familie, die er nie mehr sehen wird. Er schläft nicht gut am Dienstagabend.«
    »Warum ist er hier?«
    Ihr Vater wich ihrem Blick aus. Dann schüttelte er den Kopf.
    »Es ist besser, wenn du es nicht weißt«, sagte er leise.
    Harry gingen die Augen über, sie sah zu dem ältlichen Mann. Noch immer zog er mit seiner zitternden Hand an den Hautfalten am Hals, dann sah er mit leerem, wässrigem Blick zu ihr herüber. Ihr rutschte der Magen eine Etage tiefer. Sie sah weg und betrachtete das Gesicht ihres Vaters. Er wirkte sehr viel älter als seine vierundsechzig Jahre. Seine Haut war schlaff, die Stirn von tiefen, gewellten Falten durchzogen wie die Linien, die die Ebbe im Sand hinterließ.
    »Ist es in Ordnung hier drinnen?«, fragte sie. »Geht es dir gut?«
    »Mach dir um mich keine Sorgen, Liebes. Ich komme zurecht.« Er verzog das Gesicht. »Ich vermisse das Sonnenlicht. Und ich kann es nicht ertragen, wenn andere darüber bestimmen, wann das Licht an ist oder aus. Aber ich beschäftige mich. Ich habe ein gewisses Talent für die Schreinerei. Ich spiele ein wenig Poker, schreibe ein paar Briefe. Ich schreibe dir ziemlich oft, Harry.«
    »Wirklich? Ich habe noch nie einen Brief bekommen.«
    »Oh, nein, ich schick sie niemals ab.« Er lächelte, als wäre alles wie früher nur irgendein Blödsinn. Dann runzelte er die Stirn, beugte sich vor und streckte beide Arme über den Tisch, die Handflächen nach oben, als wolle er ihre Hände ergreifen, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht erreichen konnte.
    »Warum bist du gekommen, Harry?«, fragte er. »Stimmt

Weitere Kostenlose Bücher