Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
genau heute in einer Woche. Vielleicht könnte er tatsächlich das Priesterseminar fortsetzen und so sein Leben endlich in geregelte Bahnen lenken, um wieder den inneren Frieden zu spüren, den er vor seinem Austritt empfunden hatte. Ja, er musste seinem Leben wieder einen Sinn geben und die dunklen Wolken in seinem Kopf in spirituelle Freiheit verwandeln.
Kilian wandte sich um. Er meinte, Schritte gehört zu haben, aber in den Gassen war außer einem verlausten Hund, der zusammengerollt in einer Ecke schlief, nichts zu sehen.
Schweigend gingen sie über das Kopfsteinpflaster weiter bergan. Joana hakte sich bei ihm unter und ließ sich ein wenig mitziehen. Joana. Er mochte sie! Er mochte sie sogar sehr.
Kurz vor dem höchsten Punkt der Gasse blieb Joana vor einer rustikalen Holztür stehen und kramte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel. Kilian stellte sein Gepäck auf dem Steinpflaster ab, streckte seinen Rücken und sah sich um. Das Haus besaß drei Stockwerke und die Fassadenfront umfasste in ihrer Breite nur etwa fünf Meter. Er spähte links und rechts die Gasse hinunter. Alle Häuser waren aneinandergebaut; die Wände wirkten wie eine geschlossene Mauer. Im Erdgeschoss des Gebäudes vor ihnen befand sich neben der Eingangstür ein Fenster von der Größe eines Schachbretts. In den zwei oberen Stockwerken fanden sich je zwei weitere Fenster, die um einen knappen Meter nach hinten versetzt waren. Die Mauern hatte man wohl zu Zeiten gebaut, als es noch keine Klimaanlagen gab und die Kühlung allein durch die Wandstärke erzeugt werden musste, dachte er. Aber wenn man vom Baustandard absah, verfügte das Haus über einen solchen mediterranen Charme, dass man es sich durchaus als Motiv auf einer andalusischen Postkarte vorstellen konnte. Die Fassade wurde von grasgrünen Fensterläden und Terrakottatöpfen beherrscht, aus denen bordeauxrote Geranien zur Gasse hinabwallten, so als gieße jemand einen Eimer Sangría aus dem Fenster. Statt einer Dachkante reihten sich die weißen Kegel einer Balustrade aneinander und ließen auf eine Dachterrasse schließen.
Joana stemmte sich gegen die Tür, die mit einem Ruck aufsprang und dann innen über einen Marmorboden scheuerte. Kilian wollte sich gerade zu seiner Tasche bücken, als er am Ende der Gasse einen Schatten sah. Er richtete sich auf und starrte das nur vom Mondlicht erhellte Pflaster hinab. Im ersten Moment dachte er, er hätte Antonio erkannt, aber dann war die Person auch schon um die Ecke verschwunden.
Kilian folgte Joana ins Haus und fand sich direkt hinter der Eingangstür in einem gemütlich eingerichteten Wohnraum mit offener Küche wieder. Einige der Möbelstücke erkannte er zu seinem Erstaunen. Offensichtlich hatte Joana – ebenso wie er – ihre Wohnung vorwiegend mithilfe eines schwedischen Möbelhauses eingerichtet, bei dem man alles selbst zusammenbauen musste. In der linken Wohnzimmerecke stand eine schwarze Ledercouch mit Beistelltisch und an der dem Eingang gegenüberliegenden Wand ragte eine Küchenzeile auf, die am Fuß einer schmalen Treppe endete, welche wohl zu den oberen Etagen führte. Vor der Küche stand ein robuster Esstisch mit vier Sesseln, dazu eine Kommode mit Flachbildschirm. Über dem Bildschirm hingen drei schwarze Regalbretter in unterschiedlicher Länge – genau wie auch bei ihm in Pasing. Auf den Regalen lagen Bücher, Zeitschriften, einige gerahmte Familienfotos standen ebenfalls dort. Kilian trat näher heran. Eines der Fotos zeigte Joanas Familie an einem Strand hinter einem großen Haufen Sand, offenbar eine Burg, die das Familienoberhaupt gerade mit seiner jüngsten Tochter gebaut hatte. Der Vater mit Schnauzbart, die Mutter in einem Rüschenbadeanzug, Carmen mit Plastikschaufel und Kübel und Joana, die deutlich ältere, kokett mit Sonnenbrille und Hut. Alle lächelten in die Kamera und Kilian stiegen Tränen in die Augen. Das musste vor fünfzehn Jahren gewesen sein – und jetzt war nur noch Joana übrig. Wie konnte sie das nur aushalten, fragte er sich, täglich dieses Bild direkt vor der Nase zu haben. Zwar hatte er in seiner Münchner Wohnung ähnliche Fotos: er und sein Bruder, wie sie mit seinem Vater auf dem Traktor saßen, als sie noch keine zehn Jahre alt waren. Oder seine Familie am einzigen Sonntagsausflug, bei dem sie mit einem Elektroboot über den Chiemsee schifften, damals, als der Frust und die Tyrannei seines Vaters sich noch in Grenzen hielten. Der Unterschied war nur, dass er seine Erinnerungen
Weitere Kostenlose Bücher