Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
anders handhabte als Joana. Seine wenigen Familienfotos befanden sich in einer Schublade, wo sie, unter alten Gebrauchsanweisungen versteckt, erst beim nächsten Umzug wieder schmerzliche Erinnerungen an seine Kindheit hervorrufen konnten. Vielleicht lag der Unterschied in der Präsentation daran, dass Joana im Gegensatz zu ihm eine glückliche Kindheit erleben durfte und sich auch gerne daran erinnerte, obwohl sie die Einzige auf den Fotos war, die noch lebte.
Joana zog ihn am Ärmel und stieg vor ihm die Treppe hoch. Kilian musste sich bücken, um sich nicht den Kopf zu stoßen.
Im ersten Stock war die Grundfläche von etwa fünf Mal fünf Metern in drei Räume aufgeteilt: Joanas Schlafzimmer, ihr Badezimmer und einen Abstellraum, den sie offenbar als Garderobe benutzte. Joana machte einen Bogen um ihr Bett und stieg ins oberste Geschoss hinauf. Kilian drückte seine Tasche an sich und folgte ihr die enge Stiege hinauf. Im letzten Stock war ein kleines Appartement untergebracht, mit einem Einzelbett an der rechten Wand und einem runden Tisch vor einer Kochnische. Auch dieser Bereich war gemütlich eingerichtet, machte aber einen unbenutzten Eindruck. Neben dem Bett führte eine Tür ins Badezimmer. Joana nahm ihm die Tasche ab, stellte sie auf das Bett und fasste ihn an den Händen. »Kilian, ich möchte offen zu dir sein.«
Er spürte, wie sein Puls sich beschleunigte.
»Ich habe seit zwei Jahren mit keinem Mann mehr geschlafen und … ich werde es auch heute nicht tun.« Sie strich ihm eine Strähne aus der Stirn.
Kilian nickte und spürte das unbändige Verlangen, sie zu umarmen und zu beschützen. Sie sah so wunderschön, aber auch so verletzlich aus, hier im schummrigen Licht einer marokkanischen Deckenlampe aus rotem Leder. Er drückte sie fest an sich.
»Ich bin dafür einfach noch nicht frei genug im Kopf«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
»Ich weiß.« Er streichelte ihr Haar. Seine Emotionen schwankten zwischen drei E’s: Enttäuschung, Erleichterung und Erregung. Er konnte nicht anders, als sich auszumalen, was gewesen wäre, wenn sie ihn an sich gezogen, ihn geküsst und seine Hose geöffnet hätte, aber vor allem – was hätte er dann getan? Er wusste es nicht. Wie es jedoch aussah, wurde er – Gott sei Dank! – nicht derart hart auf die Probe gestellt.
Joana löste sich, gab ihm einen Kuss auf die Wange, hauchte ihm »Buenas noches« ins Ohr und stieg zu ihrem Schlafzimmer hinunter. Kilian ging mit wackligen Beinen zum Bett und setzte sich. Seine Jeans spannte etwas im Schrittbereich.
Antonio konnte es kaum fassen: Der verdammte Deutsche trieb es doch tatsächlich mit der zugeknöpften Joana! Er schüttelte den Kopf und schlug mit der flachen Hand gegen eine Hauswand. Eigentlich hatte er Joana alleine zur Rede stellen wollen und gedacht, der Deutsche würde nach seinem Date mit der Empfangstussi zurück ins Hotel fahren, aber stattdessen holte der seine Tasche aus dem Auto und begleitete Joana auch noch nach Hause.
Was war denn hier los?
Ließ sich »Señorita frígida«, bei der sich – inklusive seiner selbst – schon viele Kandidaten die Zähne ausgebissen hatten, plötzlich von jedem dahergelaufenen Touristen abschleppen?
Als er den beiden eben noch durch die Altstadt gefolgt war, hatte er wieder an Elena denken müssen. Die kleine Schlampe hatte also tatsächlich bei Joana angerufen und doch nicht geblufft. Zum Glück war Joana nicht sicher, ob die Anruferin sich nicht nur verwählt hatte. Das war auch nicht weiter verwunderlich, denn Elena war ja so strohdumm, dass sie sich nicht einmal ordentlich erklären konnte. Aber Joana war alles andere als doof. Sie hatte Elena am nächsten Tag aufgelauert. Vorhin, als er das hörte, hätte es ihm beinah einen Infarkt verpasst. Hatte Elena sich etwa bei dem Gespräch im Hotel verplappert und ihn belastet? Das war die goldene Frage – und die wollte er beantwortet haben, vorher gab es keine Ruhe …
Aber was passierte nun stattdessen?
Der verfluchte Deutsche rückte ins Bild und vergriff sich an Joana. Es war zum Verzweifeln! Einen Moment lang war Antonio versucht gewesen, seine Deckung im Schatten zu verlassen, um Joana nochmals nach Elena zu fragen. Aber wenn sie bis jetzt noch keinen Verdacht schöpfte, dann hätte sein auffälliges Verhalten wohl nur dazu beigetragen, dass ihr langsam dämmern musste, dass es da einen Zusammenhang gab: zwischen ihm, Elena und ihrer vermissten Schwester. Also blieb er vernünftig und beobachtete die
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