Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
außer seinem vorteilhaften Äußeren – noch so bemerkenswert fand, dass ihre Gedanken seit dem Vorfall in der Finca immer wieder in seine Richtung schweiften und sie sich vorhin überstürzt hatte verabschieden müssen, um nicht auf offener Straße wie ein Teenager loszuheulen. Gut, er hatte ihr das Leben gerettet. Aber darüber hinaus? War es seine Sensibilität, die ihn von den ganzen Machos abhob, mit denen sie sonst zu tun hatte? Oder war es seine unaufdringliche Art, in der er sich mit ihr austauschte, und sich dabei nicht immer nur ins beste Licht rückte, sondern auch offen über seine Schattenseiten sprach? Joana fand keine klare Antwort auf diese Frage, aber letztendlich war es auch egal. Kilian war weg und sie hatten nicht einmal Handynummern oder E-Mail-Adressen ausgetauscht. Aber im Hotel zumindest war seine Adresse notiert und zusammen mit seinem Namen würde sie wohl über die Auskunft seine Telefonnummer herausbekommen. Andererseits – vielleicht sollte sie ihm besser einen Brief schreiben, aber was sollte sie ihm sagen? Nun, sie könnte sich zunächst einmal für den kleinen Schwindel entschuldigen, den sie gerade als emotionalen Schutzschild benutzt hatte: Es gab nämlich überhaupt keine Verabredung mit Maite. Aber nach drei Wochen platonischer Freundschaft hätte sich die kleine Flamme, die seit einigen Tagen in ihr brannte, bei einem letzten romantischen Abendessen sehr wahrscheinlich zu einem lodernden Feuer entwickelt, ein Feuer, dass sie nicht mehr unter Kontrolle hätte halten können. Das Feuer hätte wieder nur ihr Herz verbrannt, und diesmal wahrscheinlich endgültig zu Asche. Kilian würde ihr Verhalten verstehen, dafür war er sensibel genug. Sensibel und komplett schusselig, was den Umgang mit Frauen anbelangte! Er hatte ihr den Kopf verdreht und es noch nicht einmal bemerkt.
Die Beamtin am Schalter bekundete zunächst ihr Beileid, natürlich wegen Inmaculadas Tod. Joana bedankte sich mit einer gewissen höflichen Routine und bückte sich zu dem Postfach mit der Nummer 649, das mit Bankauszügen, Rechnungen, Werbung und Kondolenzkarten vollgestopft war. Sie zog ein gelbes Einschreibeformular aus dem Stapel, legte es vor und ließ sich von der Postbediensteten ein gefüttertes braunes Kuvert aushändigen.
»Joana, wenn ich dir irgendwie helfen kann …«
Joana nickte nur abwesend und stopfte den Inhalt des Fachs in ihre Tasche. Mit dem Kuvert in der Hand verließ sie das Postamt. Langsam war sie an einem Punkt angelangt, an dem sie kein Mitleid mehr ertragen konnte. Erst wegen ihrer Schwester, dann wegen ihrer Mutter und jetzt verschwand auch noch Kilian aus ihrem Leben. Wenn ich dir irgendwie helfen kann – Da gäbe es so einiges, dachte sie.
Draußen musterte Joana das Kuvert, dem offenbar der Absender fehlte. Sie drehte den Umschlag und fand auf der Rückseite ihren Namen handschriftlich notiert, darunter die Postfachnummer und der Wohnort. Dios mío! Sie musste sich an einem Laternenpfahl festhalten, um nicht zu Boden zu sacken. Es brauchte keinen Absender, sie wusste auch so, von wem dieses Kuvert stammte! Fiebrig begann sie, den Umschlag aufzureißen, besann sich aber schnell eines Besseren. Die Post lag neben einer Kneipe, und dort waren gerade alle Tische voll besetzt. Nein, sie wollte diesen Brief in Ruhe lesen und nicht in aller Öffentlichkeit herumheulen, denn genau das würde gleich passieren, dachte sie und wandelte – das Kuvert fest an die Brust gepresst – wie ferngesteuert durch die Straßen.
Am Strand lehnte sie sich gegen eines der grünweißen Fischerboote, die tagsüber an Seilwinden aus dem Wasser gezogen wurden, und starrte in das aufgewühlte Meer. Hier war sie allein, nur ein Mädchen spazierte mit ihrem Labrador am Strand entlang. Joana legte sich das Kuvert auf den Schoß. Eine Träne tropfte auf den Umschlag. Sie brauchte eine Weile, ehe sie den Mut fand, die handgeschriebenen Seiten aus dem Kuvert zu ziehen.
Insgesamt dreimal las sie den Brief und jedes Mal empfand sie etwas völlig anderes dabei: Das erste Mal Trauer, das zweite Mal Wut und Entsetzen, und als sie die Seiten zum dritten Mal aus der Hand legte und ihr Blick dem Gleitflug eines Pelikans folgte, traf sie die Erkenntnis mit der Wucht eines Faustschlags: Es war noch nicht vorbei!
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D ie letzten Gäste verließen die Cafeteria und Antonio räumte hinter ihnen den Tisch ab. Die Wanduhr zeigte 00.15 Uhr. Er schloss die Eingangstür ab und machte sich ans Gläserspülen. Er wollte
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