Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
den Mund und so lagen sie eine Weile schweigend nebeneinander.
»Was denkst du?«, versuchte er es später noch einmal. Aber anstatt zu antworten, zeigte Joana ihm ihre Faust und öffnete sie. Etwas, das aussah wie ein verrosteter Fischerhaken, an dem eine erbsengroße Bleikugel hing, fiel in den Sand.
»Woher hast du das?«
»Der war in einer Ritze zwischen den Holzplanken eingeklemmt.«
Kilian verstand nicht. Was wollte sie mit diesem braungefleckten, salzverkrusteten Fischerutensil? Joana stützte sich auf ihre Ellbogen und rubbelte die Bleikugel zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann hielt sie den Haken vor ihre Augen und musterte ihn.
»Joana, darf ich fragen, was an diesem rostigen Eisenhaken so interessant ist?«
Joana kratzte sich an der Stirn. Dahinter schienen ihre Gedanken zu rattern wie bei einem Großrechner. Schließlich blinzelte sie, als hätte sie sich vor ihren eigenen Schlussfolgerungen erschreckt. »Das ist kein Fischerhaken!«
»Sondern?«
»Ein Ohranhänger, mein Ohranhänger, um genau zu sein!«
Kilian setzte sich auf und nahm ihr den Anhänger aus der Hand. Tatsächlich: Die vermeintliche Bleikugel war ein roter Stein und der Haken schimmerte nun goldfarben.
» Dein Anhänger?«
»Ja. Ich bin ziemlich sicher.«
»Ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst, Joana.«
»Ich habe diesen Anhänger damals in Hamburg gekauft, das da ist ein Tropfen aus roter Jade«, erklärte sie und stupste mit dem Zeigefinger gegen den Stein. »Und ich glaube nicht, dass man so einen Anhänger hier kaufen kann.«
Kilian verstand immer noch nicht.
»Du wirst ihn verloren haben als du …« Er unterbrach sich. »Moment mal, du hast doch gar keine Ohranhänger getragen, als du ins Boot gestiegen bist?«
Joana nahm Kilian das Schmuckstück aus der Hand. Ihre Finger zitterten. »Ich habe damals meiner Schwester zwei dieser Anhänger geliehen, sie passten gut zu ihrem roten Kleid, dem Kleid, dass sie sich für die Hochzeit unserer Cousine gekauft hatte.« Sie beugte sich zu ihm hinüber und flüsterte: »Dieser Anhänger lag in Antonios Boot, und es sieht so aus, als würde er dort eine ganze Weile liegen. Kilian , vielleicht schon seit dem Tag, am dem Carmen verschwand !«
41
A m nächsten Tag um zehn Uhr morgens saßen Kilian und Joana in Pacos Büro auf der Polizeistation und warteten, bis dieser sein Telefonat beenden würde.
Kilian sah aus dem Fenster und dachte an seinen morgigen Rückflug nach München. Er wusste zwar immer noch nicht, was mit seinem Bruder in jener Nacht geschehen war, würde es aber aus eigenem Antrieb nicht mehr herausfinden können, und so wie es aussah, blieb Xavers Tod wohl ein Mysterium. Zwar wünschte er sich noch ein wenig gemeinsame Zeit mit Joana, aber sein Termin vor dem Gremium war bereits in knapp zwei Tagen und Joana hatte ohnehin ganz andere Sorgen. Den gestrigen Nachmittag hatte sie damit verbracht, Hypothesen über den Ohranhänger und dessen Fundort aufzustellen, während er an nichts anderes denken konnte als an den katastrophalen Abschied von seinem Bruder. So als wäre sie die Urlaubsvertretung seiner Psychotherapeutin, erläuterte ihm Joana dabei ihre Sicht der Dinge: »Weißt du, auf was es im Leben wirklich ankommt, Kilian? Es kommt nicht so sehr darauf an, wie ein Moment oder ein Erlebnis sich für dich darstellt, sondern es kommt darauf an, unvergessliche Momente zu erleben. Am Ende sind nur diese es, die dir in Erinnerung bleiben. Und du kannst sicher sein, dass du Xavers Bestattung niemals vergessen wirst – übrigens genauso wenig wie ich –, und in ein paar Jahren wirst du über diese Anekdote deines Lebens schmunzeln, also sieh die Dinge endlich einmal positiv anstatt immer nur negativ!«
Das war wieder eine ihrer simplen Betrachtungen seiner komplizierten Sichtweise der Dinge, eine Einschätzung der Lage, gegen die er nicht argumentieren konnte und wollte. Also versuchte er, auf sie zu hören, und diese »unvergessliche« Trauerfeier, unter dem Motto »dumm gelaufen« endlich abzuhaken.
Joana rutschte ungeduldig auf Pacos Besucherstuhl hin und her. Der Beamte telefonierte immer noch, gab ihnen aber ein Zeichen, dass es nicht mehr lange dauerte. Kilian fürchtete, dass auch dieser Besuch bei der Guardia Civil nicht den Erfolg brachte, den sich Joana davon versprach.
Gestern in ihrem Wohnzimmer hatte sie die Fotos, die bei der Hochzeit ihrer Cousine aufgenommen worden waren, mit der Lupe betrachtet. Eines der Bilder war eine Großaufnahme:
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