Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
lebendiger Vorwurf.
Hilfe kam von einer äußerst merkwürdigen Seite, obwohl er es damals nicht so sah: Eine Frau in Schwarz kam mit ein paar kräftigen Kerlen in Uniform auf den Kai. Zwanzig Minuten später war er verhaftet. Von diesem Augenblick an verlagerte sich Nancys Seelenpein davon, wer er war, hin zu den Behauptungen, was er getan habe. Das gab ihm Freiraum. Nicht viel, aber immerhin Freiraum.
Riley fegte die Rattenköttel auf und brachte Handfeger und Kehrblech wieder in einen Wandschrank im Flur. Als er die Tür schloss, hörte er die geschliffene Stimme, als wäre sie gleich neben ihm. Er sah die geschrubbten Fingernägel, die weißen Manschetten, die gestärkte Hose.
»Ein Mann sollte gut nachdenken; er sollte sich selbst kennen.«
Riley hatte nicht begreifen können, wieso dieser Mann sich überhaupt für ihn interessierte.
»Ich kenne mich besser, als Sie es je tun werden, Major. Ich habe Sachen erlebt … hier drin«, er deutete vehement auf seinen Kopf, als sei er ein ferner Kontinent, »von denen Sie nur gehört haben.«
»Ich meine nicht das, was du getan hast. Ich meine das, was du bist. Den Mann hinter den Fehlern und Irrwegen.« Der Major beugte sich vor und legte eine Hand auf jedes Knie wie der Sanitäter auf dem Fußballplatz. Er starrte Riley mit klaren, unerträglich gütigen Augen an. »Das ist nicht dasselbe, weißt du.«
Das ist nicht dasselbe. Die seltsame Äußerung wirbelte über vierzig Jahre hinweg in das leere Haus in Tottenham. In Rileys Kopf wurde es finster – selbst aus seinen Augen schien jedes Licht zu weichen. Ließ sich denn ein Mensch von seinen Taten trennen? Wie eine Flamme im Kamin flackerte die Erinnerung auf: Riley sah sich als Junge im Schlafanzug in der Schlafzimmertür stehen und zuschauen, wie Walter in die Luft boxte und schlug.
4
ZEHN MINUTEN VOR dem Treffen mit Inspector Cartwright saß Anselm bereits im Café und trank Tee. Gut zehn Minuten nach der verabredeten Zeit sah er eine Gestalt, die sich auf der Coptic Street zwischen den Autos durchschlängelte. Ein magentaroter Schal flatterte über einem langen schwarzen Mantel.
Anselm war Inspector Cartwright zum ersten Mal bei dem Riley-Prozess begegnet. Hinterher hatte er sie ein oder zwei Mal rauchend auf den Korridoren von Old Bailey gesehen. Ihre Blicke waren sich begegnet; und da Anselm zur sensiblen Sorte gehörte, hatte er ein gewisses Maß an Feindseligkeit entdeckt. An diesem Ausdruck hatte sich offenbar nichts geändert.
»Entschuldigen Sie die Verspätung«, sagte sie herzlich und setzte sich. »Drei Kinder unter fünf. Machen Sie das ja nicht.«
»Ich will mich bemühen.« An jedem Ohr hing ein großer, unregelmäßiger Stechpalmenohrring mit Beeren, der sicher schmerzhaft zu tragen war und von einem der unter Fünfjährigen stammte. Ihr Haar war von einem dunklen Rostbraun, sehr kurz und in klaren Linien geschnitten. »Ich glaube, als wir uns zuletzt begegnet sind, haben Sie gerade die Tür aufgemacht, um Mr. Riley rauszulassen«, sagte sie freundlich.
»Und jetzt hoffe ich, eine andere zu öffnen, die ihn wieder reinbringt«, antwortete Anselm.
Inspector Cartwright hatte natürlich keine Ahnung von Elizabeth’ Hoffnung, »Riley den guten Namen zu nehmen«, und von ihrem Notfallplan, falls der Tod der Umsetzung ihres Vorhabens zuvorkommen sollte, also erzählte Anselm, was passiert war, seit er den Schlüssel bekommen hatte.
»Leider bin ich meiner Pflicht ein bisschen später nachgekommen, als sie gedacht hat«, schloss er. »Als ich zum Trespass Place kam, war George verschwunden.«
Inspector Cartwright hatte gebannt zugehört und ab und an einen Ohrring zurechtgerückt. Sie warf einen verstohlenen Blick auf die Kuchenauswahl und sagte: »Ich habe in dieser Geschichte ja schon eine gewisse Rolle gespielt, nur habe ich bis jetzt nichts davon gewusst. Warten Sie einen Moment?« Sie winkte zur Theke hinüber und bestellte eine Dattelschnitte. »Kinder. Ich brauche Zucker.« Der Kellner brachte einen kleinen Teller mit einem kleinen Stück Kuchen. Sie überlegte ein Weilchen, bevor sie zu sprechen begann.
»Vor ein paar Jahren legte ein Freund mir eine Akte auf den Schreibtisch. Er hat einen Informanten namens Presser, der mit Trödel der unteren Preisklasse handelt. Er macht die Runde auf Jahrmärkten und Flohmärkten. Er steht auf der Gehaltsliste, damit er uns sagt, was er sieht und hört. Meistens geht es um Hehlerware – Zeug, das gegen Bares ohne Rechnung verschoben
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